Bitsey | Chapter 1


Die Bank wird langsam unbequem. Der Park in dem wir an diesem Samstagabend sitzen ist bis auf uns und einen alten Herrn menschenleer. Er blickt von seiner Zeitung auf und sieht uns seltsam an, also senke ich meine Stimme. Doloris scheint er nicht zu stören. In ihren unzähligen violetten und mitternacht-blauen Tüchern scheint die alte Frau einen Ist-mir-egal-was-andere-denken-Faden eingewebt zu haben.
  „Ich kenne jede Internetseite, jede Buchseite auf dieser Welt die sich mit Werwölfen befasst, aber nicht eine Möglichkeit, meinen Bruder davon zu befreien.“
Die Wahrsagerin schweigt. Wahrsagerin. Unfassbar, wie tief ich gesunken bin! Ungeduldig schaue ich sie an. Aber sie schweigt sich aus.
  „Können Sie mir helfen?“
Urplötzlich steht sie auf und schlendert an mir vorbei. Verdattert rappel ich mich auf und folge ihr.
  „Es gibt immer eine Möglichkeit“, nebuliert sie ins Blaue hinein.
Ich warte auf mehr Information. Kommt aber nicht.
  „Er kann also davon befreit werden.“
  „Nein.“ „A-“ „Man kann sich von einer Schuld nicht befreien, man muss dafür bezahlen, sie abtragen.“
  „Und das könnte er aber?“
  „Wenn jemand bereit ist, dass für ihn zu tun, dann wird diese fremde Seite abgelegt werden können.“
  „Ich kann das tun!“
Doloris legt eine Hand auf meinen Mund und sieht sich unheilvoll um.
  „Passen Sie auf, was Sie da sagen! Sprechen Sie nicht so leichtfertig davon.“
Erschrocken sehe ich mich ebenfalls um. Doloris umfasst meinen Oberarm und zieht mich weiter.
  „Lassen Sie es, wie es ist. Viele Wege sollen den Ihren noch kreuzen. Müssen Ihren Weg kreuzen. Der Abgrund kennt kein zurück, also ändern Sie nicht die Richtung!“
  „Welcher Abgrund?“
  „Ändern sie nicht die Richtung!“
Sie lässt mich los und zieht alleine weiter. Ich will ihr hinterher rufen, dass sie noch Geld bekommt, überlege es mir aber anders. Außer von einer Möglichkeit, von der ich nicht mehr weiß, als das es sie gibt, hat sie mir ja nichts brauchbares erzählt. Enttäuscht mache ich mich auf den Weg nach Hause.
Ich blöde Kuh! Da lasse ich eine Frau gehen, die weiß, wie ich meinem Bruder helfen kann! Schnurstracks kehre ich um und laufe Doloris hinterher.
  „Hey! Sie bekommen noch Geld.“
  „Für was?“, fragt sie irritiert.
  „Dafür, dass sie mir in fünf Minuten werden gesagt haben, was ich für meinen Bruder tun kann.“
Sie schüttelt den Kopf.
  „Die Rich-“
  „Ja, weiß ich. Ich muss es doch nicht tun, oder? Sie sagen es mir und ich entscheide mich dafür oder dagegen.“ Ich sehe sie flehentlich an. „Bitte.“
  „Kommen Sie“, sagt sie leise und führt mich zum alten Friedhof der Stadt. Dort angekommen, bleiben wir vor dem Eingang stehen. „Jeder Mensch macht Fehler, begeht Sünden und bezahlt nach seinem Tod dafür. Die Seele wandelt einsam irgendwo im Nirgendwo und wartet darauf, erlöst zu werden. Sie kann alleine nicht weiter ziehen; sie braucht jemanden, der ihr dabei hilft. Dieser Helfer zahlt einen Zoll und der Seele steht es frei zu gehen.“ Sie pausiert eine Weile bevor sie weiter spricht. „Diesen Helfer nennt man Seelenbrücke. Er geht ins Nirgendwo, findet die Seele, zahlt für sie, zeigt ihr den Weg und geht wieder.“
Ich bin nicht sicher, ob ich für den Schwachsinn wirklich was bezahlen soll, aber der Ernst, mit dem sie gesprochen hatte, lässt mich stutzig werden.
  „Und das könnte ich machen?“
  „Der Preis ist zu hoch. Denken Sie an die Wege. Ändert sich Ihrer, ändern sich alle.“
  „Das bin ich meinem Bruder schuldig.“
  „Nein. Sie sind ihm nichts schuldig. Nur sich selbst und den Wegen.“
Ich habe genug von ihren Wegen und frage sie, wie man das Helfen bewerkstelligt.
  „Sie haben die Richtung geändert. Kommen Sie morgen zu mir.“
Ich lasse sie gehen.

Der Feierabendverkehr hat nachgelassen und auch in der Straßenbahn steigen mehr Menschen aus als ein je näher sie dem Stadtrand kommt. An der Endhaltestelle steige ich aus und warte auf Sue – die eigentlich Susanna heißt – und Maja.
Um mich herum ragen Wohnblöcke in den Himmel. Ein paar Möwen die sich verirrt haben kreisen über sie hinweg. Ein gellender Pfiff reißt mich aus meinen Gedanken.
  „Hey, Bitsey!“
  „Ich dachte schon, ihr kommt nicht mehr.“
Maja sieht mich entschuldigend an. Dann nimmt sie ihren Strandhut ab und entblößt ihre neue blonde Lockenpracht.
  „Wow. Mein lieber Scholli! Habt ihr das alleine gemacht?“
  „Sei ehrlich, Bitz, wie sieht es aus?“ Maja kaut nervös auf ihrer Unterlippe.
  „Sag bloß nichts falsches! Wir haben den ganzen Tag daran gesessen“, droht mir Sue, während sie ihren schokobraunen Bob richtet.
  „Die sind echt klasse geworden. Ich meine aber, vielleicht, also-“
  „Spucks aus: es ist zu viel.“ „Nee. Habt ihr sie ein bisschen ausgekämmt-“ „Och nö! Das wars, Maja. Ich hab doch gesagt, wir haben was vergessen!“ „Können wir immer noch bei mir machen, oder?“ Die beiden sind einverstanden.
Langsam schlendern wir den Weg zur Hauptstraße hinunter, wo mein Vater uns abholen wird. Sue erzählt mir lang und breit von ihrem Versuch Majas dunkelblonde Haare goldblond zu färben und wie sie fast am Lockenstab verzweifelt wären.
  „Scheint dann doch geklappt zu haben.“
  „Hör bloß auf! Wir haben die Lockenwickler meiner Mutter genommen und gedreht. Ich schwöre, ich hab ihre Haare schneller eingedreht, als Mark seine Kippen.“
  „Das will was heißen. Was treibt er so?“
  „Hängt mal wieder mit ein paar Vollidioten ab.“
Das Mark dabei ist auf eine schiefe Bahn zu geraten gefällt mir gar nicht. Auch Maja schaut unwohl drein.
  „Hey, nun mach dir mal keine Sorgen“, meint Sue, als sie meinen Blick bemerkt. „Er ist alt genug zu entscheiden, was er macht. Lass uns lieber überlegen, was wir heute Abend gucken wollen.“

Nach einer Viertelstunde Autofahrt, in der mein Vater unserem Geschnatter ausgesetzt war, schmeißt er uns freundlich aus dem Auto raus.
  „Geht Oma besser aus dem Weg. Sie hatte schon einen Tobsuchtsanfall wegen Opa.“
  „Was hat er gemacht?“
  „Seinen Anzug mit Motorenöl eingesaut.“
  „Aber das ist doch schon Wochen her!“
  „Sie hat es erst heute gesehen.“
Ich stöhne: „Alles klar. Danke, Paps.“
Er verschwindet mit dem Auto in der Garage.
  Wir leben im kleinsten Stadtteil von Schwerin, was man daran merkt, dass es hier mehr wie auf einem Dorf zugeht. Hier kennt jeder jeden und alles. Die Straßen haben keine Löcher, denn es gibt gar keine. Gerade jetzt im trockenen Sommer sind die Wege sehr staubig. Und man sollte aufpassen, dass man kein Federvieh umrennt – die haben hier gewisse Vorrechte.

Leise öffne ich die Haustür. Alles ist ruhig.
  „Die Luft scheint wieder rein zu sein.“
Ich lotse uns ins Bad und zusammen richten wir das kleine Missgeschick mit Majas Frisur. Nun sieht sie wie ein verschüchterter Engel in den Spiegel und zupft hier und da an einer weichen Locke.
  „Na?“ Sue und ich warten gespannt.
  „Super.“
  „Gut. Was machen wir jetzt?“
  „Habt ihr einen Dachboden?“
  „Ja. Der ist aber ordentlich dreckig.“
  „Lasst uns mal ein bisschen stöbern gehen.“

Ich lasse die Luke langsam herunter, ziehe die wacklige Treppe aus und bitte Sue hinaufzusteigen. Maja und ich halten die Leiter ruhig.
  „Am ersten Balken zu deiner Rechten ist ein Schalter.“
Sue knipst das Licht an und Maja steigt hinauf. Ich warte bis sie oben ist und folge dann den beiden. Das erste, was mir ins Auge fällt ist ein Spinnennetz, in das ich hinein gegangen bin. Sue hustet absichtlich.
  „Seit dem Tag, an dem das hier herauf geschafft worden ist, ist keiner mehr hier gewesen, wa?“
  „Wir meiden es. Die meisten Sachen gehörten meiner Mutter.“ Meine Freunde schweigen betreten. „Tja, dann: Auf in den Dreck!“, sage ich betont munter. Und als ich anfange, eine Kiste nach der anderen zu öffnen, wühlen auch Maja und Sue in alten Klamottenhaufen und anderen Krimskrams.

Mutters Tod war bald dreizehn Jahre her. Niemand weiß was damals geschehen ist. Nicht einmal mehr Jude (der eigentlich Michael heißt). Und niemand weiß, dass ich mich daran erinnere – zumindest teilweise. Ich weiß nicht, was danach geschehen ist. Nur, dass da Stunden später viel Blaulicht war, aber mehr auch nicht. Ich habe nie darüber gesprochen und dabei belasse ich es auch. Jude hatte sie nicht willentlich getötet, aber seit jenem Abend war der andere Trieb in ihm erwacht. Der nicht kontrollierbare Werwolf. Wenn er von der Tat wüsste, würde es ihn noch mehr quälen.
  Bei meiner Recherche über diesen Trieb bin ich auf tausende Sackgassen gestoßen. Keine, dir mir erklärte, wie der Trieb ausgelöst werden konnte. Da der Fremde meine Mutter kannte, musste etwas vor unserer Zeit geschehen sein, dass Einfluss auf Jude hatte.
  Seit vier Jahren hat er sich ganz gut im Griff, wenn ich seinen Mails glauben schenken kann. Am Tage hat er seine Gelüste unter Kontrolle. Nur der Vollmond lässt ihn nach wie vor durchdrehen. Ich hatte immer gehofft, dass das nur ein Klischee wäre, aber dem ist leider nicht so. Seit seinem achtzehnten Geburtstag vor fünf Jahren ist er ständig auf Achse. Treibt sich in der Welt herum und sucht seines Gleichen. Außer unseren Großeltern und Vater weiß niemand von unserem Triebmensch auf vier Pfoten. Aber nicht mehr lange, und ich werde ihn davon befreien können.

Großmutter ruft zum Abendessen und wir lassen alles stehen und liegen. Ich verlasse als letzte den Dachboden. Im Erdgeschoss angekommen betrete ich die volle Küche.
  Ich nehme Großmutter das Besteck ab und teile es aus während ich Großvater tröstend auf die Schulter klopfe. Er zwinkert mir zu, als Beweis, dass ihm der Ausraster seiner Frau nichts ausgemacht hat. Dann flüstert er mir zu, dass oben ein Brief von Jude liegt, bedeutet mir aber, ruhig zu bleiben, als ich ihn mit großen Augen ansehe. Jude schreibt mir einen Brief?
  Ich sitze wie auf heißen Kartoffeln und schlinge den Nudelauflauf so schnell hinunter, dass Großmutter mir böse Blicke zu wirft.
  „Wie isst du denn Kind? Wir sind doch nicht auf der Flucht.“
Ich nicke und schalte einen Gang runter. Warum bin ich nicht schon auf mein Zimmer gegangen, als wir angekommen waren?
  „Den Abwasch übernimmst du, Bitsey. Oma hat schon genug gemacht.“
Ich nicke meinem Vater zu und sehe gerade noch, wie Großvater sich ein Lachen verkneift.
  Nachdem ich dank der Hilfe von Maja und Sue endlich alles erledigt habe, sprinte ich die Stufen hinauf. Aber vor meiner Zimmertür bremse ich ab. Was, wenn in dem Brief etwas steht, dass keiner wissen darf? Ich tue so, als müsste ich dringend auf die Toilette und schicke die anderen zwei wieder nach oben. Der Brief muss warten.

----------------------------------------------------------------
Anm.: Sämtliche Figuren, Charaktere und z.T. auch Schauplätze sind rein fiktiv; entspringen meiner Vorstellung. Mögliche Ähnlichkeiten zu realen Personen sind unbeabsichtigt und rein zufällig. Dies gilt auch für alle weiteren Kapitel.

Kommentare

Beliebte Posts