Bitsey | Chapter 2


Sue und Maja schlafen friedlich in meinem Bett und auf Judes Liege (Vater wollte sie entfernen, aber ich habe mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt). Ich krieche aus meinem Schlafsack, schnappe mir den Brief, den ich vor zwei Stunden unter meinem Schreibtisch versteckt habe und schleiche mich ins Bad. Auf dem Wannenrand öffne ich den Umschlag, auf dem das Profil der Queen hoheitlich auf der Marke sitzt, und beginne zu lesen:

Hey kleine Bitsey!
Ich dachte, dass es mal an der Zeit wäre, dir schriftlich auf deine 100.000 Briefe zu antworten.
Ich frage dich nicht, was du so machst – ich komme lieber persönlich vorbei. Also haltet das Fleisch frisch – ich bring noch ein paar Freunde mit.
Steht die Garage noch? Die werden wir brauchen.
Du glaubst gar nicht, was passiert ist! Erzähl ich dir alles haarklein, nachdem ich dich in meinen Armen erdrückt haben werde. So lange kannst du noch in Neugier schmoren.

Die allerbesten Grüße von dem, der mit dem Wolf tanzt – Jude.

PS.: Ich werde dir mit meinen langen Haaren die Show stehlen!“

Ich greife in meine kastanienbraunen Haare, die wild wachsen – eine Friseurschere haben die seit fünf Jahren nicht mehr gesehen – und schmunzle. Ne, das packst du nicht, Jude.
Ich möchte ihm sofort antworten, muss das aber auf eine angemessene Tageszeit verschieben und nicht um zwei Uhr in der Früh. Nochmals überfliege ich die Zeilen:
  „So lange kannst du noch in Neugier schmoren. Du bist gut.Wann kommst du? Und wen bringst du mit?“ Besser ich sage auch der restlichen Familie, was in dem Brief steht.
  Ich bin hellwach, als ich mich in meinen Schlafsack kuschle. Meinem Bruder geht es besser und bald, vielleicht schon sehr bald, wird er ein freier Mann sein.

  „Mh, nicht schon wieder dieser bekloppte Vogel!“
Seit Wochen sitzt jeden Morgen eine Taube auf meinem Fenstersims und gurrt sich die Seele aus dem Leib.
  „Sie sind ein Symbol für Liebe und Frieden -“  „Und sind die Ratten der Lüfte“, unterbricht Sue Majas tierlieben Vortrag.
  „Das kann sie meinetwegen auch alles sein – aber nicht vor meinem Fenster“, grummle ich in meinen Schlafsack.
  „Mein Magen spricht zu mir“, verkündet Sue. „Ist es erlaubt zu fragen, wann wir frühstücken?“
  „Seit wann sprichst du so geschwollen?“, will Maja wissen.
  „Madame scheint noch nicht ausgeschlafen zu haben.“
Klatsch.
Dafür bekommt sie ein Kissen an ihren Kopf.
  „Wir sind doch keine Kinder mehr!“
Aber als ich ihr ein weiteres Kissen entgegen werfe, kann auch sie sich dem bevorstehenden Spaß nicht mehr entziehen. Eine wilde Schlacht entbrennt, die erst ein Ende findet, als ich eine Vase treffe, die knapp meinen Laptop verfehlt. Außer Puste, aber gut gelaunt machen wir uns vorzeigefähig.

  „Ich wusste nicht, dass ihr zwei Häuser habt!“ Ich glaube, Sue traut ihren Augen nicht. Ungläubig sieht sie vom Haus zu mir. Immer wieder.
  Das Haus ist eigentlich kein Haus. Eher ein Gehöft. Vor dreizehn Jahren haben meine Familie und ich darin gelebt. Bis zu Mutters Tod. Vater hat es da drin nicht ausgehalten und wir sind drei kleine Straßen weiter bei seinen Eltern eingezogen.
  „Nach Mamas Tod sind wir ausgezogen.“
  „Oh. Tut mir leid. Ich wollte nicht ...“
Ich zucke mit den Schultern.
  „Konntest du nicht wissen. Wir reden nie darüber. Weder über sie noch über das Haus. Aber es gehört uns noch und wir halten es auch in Stand. Tja, und da Jude bald mit ein paar Freunden kommt ist es jetzt mal wieder Zeit, es zu säubern. Ihr seid mir doch nicht böse, dass ich euch einfach einspanne?“ „Nein! Gar nicht. Wir helfen gerne“, beteuert Maja begeistert.
  Ich hatte meine Familie auf den Brief angesprochen und ohne großes Federlesen hatte Großmutter uns – besser gesagt mich – zum putzen abkommandiert.
  Ich schließe die alte Tür auf. Das Grün blättert schon ab und überhaupt sieht sie einfach nur schäbig aus, aber mit neuer Farbe wird das schon wieder. Im Bachsteingebäude ist es angenehm kühl. Der Geruch lässt sich am besten als alt beschreiben. Muffig und abgestanden. Auf den Fliesen hat sich eine feine Staub- und Dreckschicht gebildet. Spinnen haben das Haus eingenommen.
  „Ich schlage vor, wir öffnen erstmal alle Fenster, damit der Geruch verfliegt.“
Wir teilen uns auf und schon bald ziehen Licht und Luft durch das gesamte Haus. Ich probiere die Wasserhähne aus und nach ein paar Litern gelblich-braunen Wassers, fließt das klare, mit dem wir Böden und Fenster reinigen können.
  „Wenn meine Ma mich jetzt sehen könnte, die würde mich nicht wieder erkennen“, lacht Sue. „Wo ich mich doch ganz gut vor dem Fenster putzen drücke.“
Maja schnauft: „Sicher, dass du dich nur davor drückst?“
  „Jaaa, allerdings. Tu mal nicht so, als würdest du das nicht auch ab und zu tun.“
Maja nickt einlenkend.

Stolz betrachte ich unser Werk. Vom Boden bis zur Decke ist alles sauber. Für ein Haus mit Flur, Bad, Küche, Wohnzimmer, drei Schlafzimmern im ersten Stock und noch mal zwei im Dachgeschoss ist das kein Kinkerlitzchen.
  „Ich bin erledigt“, stöhnt Sue. „Aber es hat Spaß gemacht. - Oh Gott, hab ich Spaß gesagt?“
Ich nicke. „Danke. Ihr wart eine große Hilfe.“
  „Weißt du schon, wann die alle kommen?“
  „Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie bald kommen. Und das es nicht wenige sein werden.“
  „Werden die alle Platz haben?“, fragt Maja zweifelnd.
  „Zur Not haben wir noch das Wohnzimmer bei uns und Jude kann ja mit in meinem Zimmer schlafen.“
Sue lacht. „Bitsey, du glaubst doch nicht, dass er bei dir schlafen wird? Vielleicht bringt er eine Freundin mit!“
  Ich gebe zu, dass nicht bedacht zu haben. Ich kann mir meinen Bruder mit einer Freundin aber auch nicht vorstellen. Jude und eine … nee.
  „Ob seine Freunde auch so scharf sind wie Jude?“
Ich hätte beinahe meinen Eimer mit Wasser fallen lassen. Klar, Jude sieht wirklich gut aus, soweit ich das mit den Augen einer Schwester beurteilen kann, aber das aus dem Munde meiner Freundin zu hören ist schon abgefahren.
  „Was? Stimmt doch! Ich war ganz schön vernarrt in ihn. Er hatte dieses etwas.“
  „Wir waren zwölf, als wir ihn das letzte mal gesehen haben“, gebe ich zu bedenken.
Sue zuckt mit den Schultern: „Ich wusste ihn eben damals schon zu schätzen.“
  Bevor sie noch weiter sabbernd von meinem Bruder erzählen können lenke ich ihr Interesse auf das Mittagessen, das Großmutter uns zubereiten wollte.
  „Jetzt wo du es sagst. Mein Magen hängt schon in den Kniekehlen!“

Nach dem Mittagessen und nachdem wir uns ein Lob für unsere Arbeit abgeholt haben, begleite ich Maja und Sue nach Hause. Statt aber gleich um zu kehren, steige ich in die Bahn und fahre in die Altstadt. Immerhin steht noch ein Treffen mit Doloris an.
  Doloris. Sie gehört definitiv zu der Sorte Menschen, mit denen ich generell nichts zu tun habe. Nicht weil ich sie nicht leiden kann. Ich verstehe sie nicht. Wie sie sich gibt. Was sie tut. Warum sie es tut. Ich meine, gab es denn keine andere Möglichkeit? Floristin? Oder Verkäuferin? Nein. Statt dessen schwindelt sie sich durchs Leben, haut Leute übers Ohr, zieht ihnen das Geld aus den Taschen während sie mit der freien Hand über zu kurze Lebenslinien streicht. Ich gehöre nicht zu diesen Leichtgläubigen, den Naiven. Ich gehöre der Gruppe der Verzweifelten an. Die, bei denen nichts mehr geht. Die alles ausprobiert haben und sich dann an Scharlatane wenden, weil danach eh nichts mehr kommt.

Ich verstecke mich hinter meinen Haaren, lasse die kleine Shoppingmeile hinter mir und biege in die Gasse zu meiner rechten ein. Vor einem alten Fachwerkhaus mit rotbrauner Tür bleibe ich stehen. Daran ist ein kleines Messingschild angebracht:

Lebenswege

Kein Wunder, dass ich nicht eher auf Doloris gestoßen bin. Das Schild sagt doch überhaupt nichts aus.
  Ich atme tief ein – ich ahne, welcher Geruch mich erwartet – und klopfe an. Erstmal regt sich nichts. Dann öffnet sich zaghaft die Tür. Eine Duftwolke, die bis in die Nasenwurzel reizt, schlägt mir entgegen. Eine kalkweiße Hand winkt mich hinein.
  „Guten Tag, Doloris.“
  „Ich hatte gehofft, Sie würden nicht kommen.“
  „Ich will meinem Bruder helfen, Sie kennen eine Möglichkeit.“ Das ist wie eins plus eins gleich zwei ist. Total logisch.
  „Folgen Sie mir bitte.“
Sie führt mich in ein mit Kerzen beleuchtetes Zimmer, mit Unmengen an dunklem Stoff (auf dem Boden, an den Wänden und sogar von der Decke hängen sie bis auf den Boden herunter!) und ordentlich Klimbim wie sonderbare Münzen, sehr alte Bücher (die sie wahrscheinlich selber nicht mal lesen kann), Kräuter, Talismane ... Kurz um - das volle Wahrsagerin-Klischee-Programm.
  Sie bietet mir ein Bodenkissen an und ich setze mich. Gespannt verfolge ich wie sie in ihren Stoffbergen nach etwas sucht und es auch findet. Ein kleiner hölzerner Tisch kommt zum Vorschein. Sie stellt ihn vor mir ab und ich knie mich hin, damit ich einen Blick darauf habe. Aus der hintersten Ecke kramt Doloris nach weiteren Dingen und legt die Fundstücke auf dem Tisch ab. Es sind ein grünes Lindenblatt und ein vertrockneter Zweig. Nacheinander kommen ein urnenartiges Gefäß, ein kleiner Flacon und zwei Stücke Stoffe hinzu. Dann kniet auch Doloris sich an den Tisch.
  „Bevor ich Ihnen sage, wie Sie in das Nirgendwo gelangen, erinnere ich Sie an Ihre Wege. Bedenken Sie, dass die Entscheidung, die Sie treffen, Folgen nach sich zieht, die auch andere betreffen.“
Ich nicke, zum Zeichen, dass ich sie verstanden habe.
  „Ich weiß, was ich tue.“
  „Eben nicht. Sie haben nicht die geringste Vorstellung, von dem, was Sie erwartet“, seufzt sie schwer. „Hören Sie genau zu! Als erstes brauchen Sie das Blut desjenigen, dessen Schuld Sie abtragen wollen. Das Blut ihres Bruders. Dann das Blut der Person, die zu Schaden gekommen ist. Das Blut beider wird in diese Flüssigkeit gegeben.“ Sie tippt mit ihrem Finger gegen den durchsichtigen Flacon. „Trinken Sie es aus. Alles. Sprechen Sie folgende Worte:

Ich trage deine Schuld und ich sühne deinen Tod mit allem was ich bin.
Das Leben ist mein Zeuge,
der Tod mein Vertrag.

Und beeilen Sie sich mit dem aufsagen! Danach verbrennen Sie etwas Lebendes und etwas Totes und füllen die Asche in dieses Gefäß“, und sie zeigt auf das irdene Urnengefäß. „Immer wenn Sie sich schlafen legen, schlucken Sie die Asche. Eine Hand voll davon dürfte reichen. Dann treten Sie in das Reich der Toten und sorgen für die Seelen.“
Ich sinke in mich zusammen.
  „Blut? Woher soll ich das nehmen?“
  „Es reicht auch altes Blut, solange es von den Personen stammt, denen sie helfen möchten.“
  „Wie waren die Worte, die ich sagen muss? Ich trage … was ?“
Doloris fischt ein Blatt Papier aus ihrem Tüchermeer und notiert das eben gesagte.
  „Wie sorge ich für die Seelen?“
  „Sie werden wissen, was zu tun ist. Ich selbst bin nie dort gewesen. Ich weiß nicht, was Sie dort erwartet.“
Sie reicht mir den Zettel und bedeutet mir, die anderen Sachen an mich zu nehmen. Als sie merkt, dass ich unmöglich das Tongefäß in meiner Handtasche unterbringen kann, gibt sie mir einen sackartigen Stoffbeutel und lehnt mein Geld für ihre Hilfe vehement ab.
  „Nicht dafür. Überlegen Sie es sich noch einmal genau. Denken Sie in Ruhe darüber nach. Überstürzen Sie nichts. Wenn die Worte gesagt sind, gibt es kein zurück!“

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Ende des zweiten Kapitels - habt noch einen schönen Sonntag!

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