Bitsey | Chapter 3


  „Verdammt!“
Ein Schwall Plastikbecher fällt mir entgegen, als ich die Schranktür öffne. Ich wühle nun schon seit einer geschlagenen Stunde in der Garage, in der Hoffnung, auf altes Blut von Jude zu stoßen. Ich weiß das er, nachdem er sich einmal mit einem Cutter in die Hand geschnitten hatte, diese in ein Tuch eingewickelt hatte. Und auf der suche nach dem wahrscheinlich schon weggeworfenen Tuch, stoße ich auf Plastikbecher, die keiner braucht. Doch. Vater braucht die bestimmt. Für was auch immer.
  Entnervt stoße ich die Becher ineinander und stopfe sie dahin, wo sie hergekommen sind. Und jetzt? Kein Tuch, kein Blut. Vielleicht werde ich bei Großvaters Werkbank fündig … Natürlich! Judes alte Schürze aus dem Werkunterricht.
  Hoffnungsfroh stürze ich ins Haus und die Treppen hinauf. Als ich den Speicher betrete kommt mir ein weiterer Schwall entgegen – diesmal ist es stickige Luft. Zum Glück weiß ich, wo die alten Schulsachen sind und werde schnell fündig.
  „Bitte, lass Blut drauf sein!“
Ich wickle die grüne Schürze auseinander und atme erleichtert aus als ich einen rotbraunen Streif entdecke, so als hätte Jude einen blutigen Schnitt abgewischt. Fehlt nur noch Mutters Blut.

Großvater Karl stimmt gerade seine Gitarre als ich ihn am Abend nach dem Schlüssel für das alte Gehöft frage.
  „Hast du etwas vergessen?“
  „Ich vermisse eine Kette. Ich kann sie nirgends finden. Vielleicht habe ich sie dort verloren.“
  „Das kann doch bis morgen warten, Elisabetha“, wirft Großmutter ein.
  „Es ist die von Mama.“
Ich weiß, dass man so etwas nicht macht. Auf alten Wunden herumreiten. Kind hat Mutter verloren. Schweres Schicksal usw. Aber ich weiß auch, dass ich die Nacht nicht werde schlafen können, wenn ich nicht alles zusammen habe.
Großvater überreicht mir den Schlüssel und wünscht mir Glück bei der Suche. Ich schnappe mir meine Jacke, in der ich einen Spachtel versteckt habe, und begebe mich nach draußen.

Langsam drehe ich den Schlüssel im Schloss um. Vorsichtig trete ich in mein altes Kinderzimmer. Es hat sich kaum verändert. Lediglich meine Sachen sind verschwunden inklusive meinem Bett. Stattdessen steht dort ein neues. In der Mitte des Raumes wurde ein schwerer Teppich platziert. Ich hebe ihn an und knie auf ihm, damit ich mit dem Spachtel das Blut von den alten darunter liegenden Dielen schaben kann. Das Häufchen getrockneten Blutes mit Holzsplittern wickle ich in ein Taschentuch.
  Beruhigt, nun alles beisammen zu haben trete ich den Heimweg an. Und morgen nach der Schule würde ich Mission Seelenheil beginnen können.

  „Fündig geworden?“, fragt Großvater neugierig. Ich halte das Erbstück meiner Mutter hoch. Von der feingliedrigen, weißgoldenen Kette hängt der ovale, durchsichtige und violettblaue Tansanit herab, eine elfenbeinerne Rose sitzt auf dessen Mitte. Ich binde sie wieder um.
  „Ich hatte gar nicht bemerkt, wie gut sie dir steht.“
  „Opa ...“ Ich glaube ich werde rot. Zumindest rosa. Genau betrachtet ist sie zu schön für mich.
  Bevor Oma ihren Senf dazu geben kann, verschwinde ich in den Garten und sehe mich nach brennbarem Material um. Der Zweig und das Blatt ergeben niemals eine Hand voll Asche.
  Zerstreut gehe ich durch den Garten, finde aber nichts was sich lohnen würde zu verbrennen. Also umrunde ich unsere Garage und stoße auf einen Stapel Brennholz. Ein kleiner Klotz würde wohl erstmal reichen. Vom Himbeerstrauch unserer Nachbarn rupfe ich um die zehn Blätter ab und verschwinde mit allem auf mein Zimmer. Ich habe zwar noch keine Ahnung, wie und wo ich das Zeug zu Asche verbrennen lasse, aber auch da wird mir schon etwas einfallen. Zuerst muss ich mich um dieses Blutritual kümmern.
  Aus der Schürze schneide ich den Blutstreifen aus und stopfe ihn in den Flacon, danach die Blutreste meiner Mutter. Nun wabert beides in der Flüssigkeit, die milchig trübe wird. Langsam löst sich das Blut vom Stoff ab und wird eins mit der Flüssigkeit. Muss ich den Stoff wieder heraus holen?
  „Elisabetha!“
Wow, Großmutter weiß wirklich wie man stört. Die Uhr sagt mir, dass es Zeit für das Abendbrot ist und bevor sie mein Zimmer stürmen begebe ich mich wohl besser nach unten.

  „Jude hat vorhin angerufen“, eröffnet Vater mir, als ich Platz nehme.
  „Was sagt er?“
  „Das er übermorgen mit seiner Zweitfamilie kommt.“
  „Zweitfamilie?“
  „Ja, so hat er es gesagt. Eine Art Scheinfamilie. Die anderen zwei kommen nach.“
Ich sehe ihn verständnislos an. Zwei. Zwei was?
  „Die beiden anderen Familien“, gibt er auf meinen Blick Antwort.
  „Er bringt drei Familien mit?! Wie viele sollen das denn sein?“
  „Mit ihm sind sie sechzehn.“
Ich lege mein Messer beiseite und sammle mich bevor ich frage, wo diese Masse an Menschen unter kommen soll.
  „Natürlich im alten Gehöft. Warum habt ihr es wohl sauber gemacht?“, fragt Großmutter spitz.
  „Da finden doch niemals so viele Menschen Platz.“
  „Was redest du, Kind? Wenn in jedem Schlafzimmer zwei bis drei Personen nächtigen reicht es vollkommen aus. Die Zimmer sind großzügig angelegt und ein riesiges Wohnzimmer gibt es auch noch. Und Judes altes Zimmer ist auch bereit, bezogen zu werden. Das dürfte doch wohl genügen.“
Punkt. Großmutter hat gesprochen.
  „Wenn alle Stränge reißen, räumen wir die Garage aus. Jetzt im Sommer ist es dort angenehm und ich glaube, jungen Kerlen macht das wohl nichts aus, dort zu übernachten. Was meinst du?“, zwinkert Großvater mir zu.
  „Ja. Denke schon. - Wann kommen sie denn? Am Abend?“
Vater zuckt mit den Schultern.
  „Das hat er nicht gesagt. Wir werden es wohl mitbekommen, wenn sie da sind.“
Bei einer Gruppe von sechzehn Personen würde mich das Gegenteil schwer wundern.

Nach dem Essen verschwinde ich schnell in mein Zimmer und schließe es ab. Ich schalte die Musikanlage an und öffne das Fenster. Dann stelle ich das am Boden ab und lege das Brennmaterial dazu.
  Ich brauche eine halbe Stunde, bis die Blätter anfangen vor sich hin zu kokeln. Ich versuche es erst gar nicht mit dem Klotz sondern reiße aus meinem Schulblock ein Blatt Papier heraus. Fast hätte ich es fallen lassen, so schnell fressen die kleinen Flammen das Papier auf. Zurück bleiben hauchdünne, bunt-graue Ascheplättchen in der Schale, die nicht mal meine Hand füllen könnten. Nach einem weiteren Blatt bin ich mit der Menge zufrieden. Ich schütte die Asche in das Urnengefäß und schiebe sie mit samt Dekoschale sunter mein Bett und warte, dass der Geruch verfliegt.

Der Grapefruit-rote Himmel kündet den Abend an und meine Familie zieht es nach draußen. Mit der Entschuldigung, noch etwas lernen zu wollen, drücke ich mich davor. Ich ziehe den Zettel mit den Anweisungen aus dem Beutel und führe in Gedanken eine Strichliste. Das Blut der Person, der ich helfen will, das Blut des Opfers, der Flacon, zweierlei Asche.
  In Gedanken greife ich nach dem Flacon und stutze, als ich nur klare Flüssigkeit entdecken kann. Kein Stoff oder dergleichen befindet sich mehr darin. Es ist wohl kein Wasser sein. Ich entkorke die Flasche und setze zum trinken an. Der erste Schluck schmeckt, als hätte ich meine Zunge über ein altes Auto gefahren: rostig, metallen. Bevor ich es mir anders überlege kippe ich den Rest hinunter. Dann lese ich die Worte vom Zettel ab.
  „Ich trage deine Schuld und ich sühne deinen Tod mit allem was
ich bin. Das Leben ist mein Zeuge, der Tod mein Vertrag.“
Es ist kurz vor halb acht und nichts passiert. Ich überlege, die Asche hinterher zu schlucken, doch auf dem Zettel steht, dass es vor dem Zubettgehen eingenommen werden soll.
  Ich gehe ins Bad, um meinen Mund – der trocken geworden ist – mit Wasser an zu feuchten, als mir furchtbar übel wird. Blindlinks stürze ich zur Toilette, doch ich erbreche nicht. Stattdessen verkrampft mein ganzer Körper und ich lasse mich zu Boden gleiten. Ich umklammere meinen Bauch; ein kalter Schweißfilm liegt auf mir. Eine unerträgliche Hitze steigt in mir auf. Die kalten Fließen spüre ich kaum. Vor mir verschwimmen die Konturen zu einer Masse an ungetrennter Farbe um dann wieder klar zu werden. Todesangst übermannt mich und unter Tränen schnappe ich nach Luft. Immer wieder. Und doch glaube ich zu ersticken. Ich will schreien vor Schmerz, doch habe nicht den Atem dafür.
  Ich weiß nicht mehr, was ich tue. Schlage ich um mich? Atme ich noch? Alles ist dumpf und ein anhaltend hoher Ton sirrt in meinem Kopf während ich das Augenlicht und mein Selbstgefühl verliere.

Benommen liege ich am Boden. Ein beißender Geruch erreicht meine Nase und lässt mich innerlich schütteln. Alles kribbelt und ich fühle mich sehr matt, doch Übelkeit steigt in mir auf und ich versuche mich aufzurichten. Ohne Erfolg. Ich kann es nicht halten und übergebe mich. Zitternd schiebe ich mich fort von der Lache und ruhe eine Weile. Langsam atme ich ein und aus. Als ich glaube, stark genug zu sein, setze ich mich auf. Die weißen Fließen sind furchtbar grell so das ich die Lider fast schließen muss.
  Nach minutenlangem Sitzen wird mir klar, dass ich dort nicht bleiben kann. Die Tür muss zu. Ich ziehe mich am Waschbecken hoch und tapse zur Tür. Mit klammen Händen schließe ich die Badezimmertür zu, tapse zur Toilette und lasse mich darauf nieder.
  Nach vielen stillen Minuten höre ich die Haustür zu schlagen. Die Stimmen der anderen dringen zu mir herauf; sicher will Vater gleich unter die Dusche. Ich greife mir einen Eimer und Lappen und entferne Erbrochenes und Urin. Ich meine auch Blut weg zu wischen, vermag aber nicht zu sagen, wo es herkommt.
  Danach stelle ich mich selbst unter die Dusche, angezogen wie ich bin, und lasse das Wasser an mir herab fließen. Langsam schäle mich aus meiner Kleidung und wasche sie grob aus.

Es klopft an der Tür als ich aus der Kabine steige.
  „Bist du bald fertig?“, fragt Vater freundlich.
  „Fünf Minuten noch“, krächze ich zurück.
  „Gut. Sag mir Bescheid, ja?“
  „Mach ich.“

Nachdem ich mich abgetrocknet und eingecremt habe betrachte ich mich im Spiegel. Ich bin aschfahl im Gesicht und sehe aus, als hätte ich an einem Marathon teilgenommen. Noch erschreckender finde ich meine schwarzen Augen. Die Pupillen sind stark erweitert und verdrängen das Grau der Regenbogenhaut gänzlich. Der tiefschwarze Glanz lässt mich schaudern.
  Bevor mein Vater noch einmal hochkommt, stopfe ich die nasse Wäsche in die Waschmaschine und schleiche mich mit einem Handtuch bedeckt in mein Zimmer. Ich tausche es mit meiner Nachtwäsche und steige die Treppe zur Hälfte hinab.
  „Paps? Bad ist frei!“
Bevor jemand mich sieht taumele ich zurück in mein Zimmer. Mein Blick fällt auf den Wecker. Einundzwanzig Uhr vier. Vor anderthalb Stunden hatte ich das Zeug getrunken. Wie lange hatte ich dort gelegen? Und was war überhaupt mit mir passiert?
  Ich lege mich aufs Bett und denke zurück bis zu dem Moment, an dem ich das Bewusstsein verloren habe. Der leere Flacon schimmert im letzten Abendlicht, als könne er kein Wässerchen trüben. Ich hebe ihn auf und lasse ihn im Beutel verschwinden. Das hätte ich lassen sollen. Ich schlage die Hand vor den Mund und stürze ins Bad. Mein Vater springt aus dem Weg und ich entledige mich meiner Not in der Kloschüssel. Feinfühlig verlässt er das Bad. Als ich meine, nichts mehr in mir zu haben, dessen mein Körper sich entledigen könnte, traue ich mich wieder raus.
  „Geht es wieder?“
Ich kann nur nicken. Vaters linke Braue hebt sich. Dann legt er eine Hand auf meine Stirn.
  „Du hast Fieber.“
  „Geht schon.“
Bitte keine Fragen. Bitte keine Fragen.
  „Du gefällst mir nicht.“ „Na hör mal. Ich bin deine Tochter“, werfe ich ihm gespielt vor.
Seit Mutters Tod war er sehr übervorsichtig, was seine Kinder anging. Er wird mich zum Arzt schicken wollen, mit Sicherheit. Er seufzt.
  „Wenn es morgen nicht besser ist, fahre ich dich zum Arzt.“
Ich nicke und nehme mir fest vor, zum Frühstück wieder munter zu sein.

Es ist fast still im ganzen Haus, als ich in die Küche schleiche, um mir eine Schale zu stibitzen. Wie stetig fallende Murmeln dringt das Uhrticken durch das Erdgeschoss. Mit einer Plastikschale und einer Flasche Wasser unterm Arm trete ich den Rücktritt an. Eine plötzliche Schwindelattacke lässt mich straucheln und um ein Haar hätte ich das ganze Haus geweckt. Ich umgreife das Treppengeländer und halte mich fest. Ich atme betont tief ein und aus und richte meine Gedanken auf meine Hand am Geländer. Als sich um mich herum nichts mehr dreht, nehme ich die letzten Stufen in Angriff.
  Mit Bedacht schließe ich meine Zimmertür. Nun ist es soweit. Ich ziehe die Ascheschale hervor und streue alles auf meine Hand. Die feinen Plättchen zerfallen und werden eine mittelgraue mehlige Masse. Der Geruch ist wie nicht anders zu erwarten unangenehm. Wie ein schwelender Brand. Ein Schauder des Ekels erfasst mich. Immer wieder führe ich meine Hand zum Mund, doch jedes mal sträubt sich mein Körper, schüttelt sich und der verhasste Würgereiz stellt sich ein.
  Tränen laufen an den Wangen herab und ich glaube ich stehe kurz vor einem Zusammenbruch. Ich stehe auf und ziehe ein altes Fotoalbum aus dem Regal. Schnell finde ich die Seite, die ich suchte. Vorsichtig lege ich es auf den Boden und setze mich davor. Von einem der Bilder lacht mir Jude entgegen. Ein Bild das wenige Monate vor Mutters Tod entstanden war. Der Zehnjährige herzt seine kleine Schwester, die ihm bis zum Nabel reicht. Wenn Jude dieses Leben wieder haben konnte, würde ich ihm nicht im Weg stehen.
  Die Asche rieselt in meinen Mund und wird unverzüglich klumpig. Mein Schluckreflex scheint mich im Stich zulassen. Der lehmartige Klumpen – statt im Magen zu verschwinden - verteilt sich im Mundraum wo er ein Brennen auslöst. Unter der Zunge ist es am schlimmsten. Ich öffne die Wasserflasche und lasse die klare Flüssigkeit den Mund ausspülen. Widerwillig schlucke ich die Asche hinunter. Wenn ich glaubte, es würde davon besser werden, so wurde ich nun eines besseren belehrt. Aus dem Brennen wird ein Stechen. Ich erinnere mich an frühere Zahnarztbesuche. Ich wollte mir einen Milchzahn nicht ohne Betäubung ziehen lassen. Nun hatte ich hunderte dieser Nadeln in meinem Unterkiefer.
  Die Minuten streichen dahin und dann endlich: der Schmerz lässt etwas nach. Erleichtert, aber auch voller Furcht, was als nächstes geschehen würde, lege ich mich zum Schlafen ins Bett. Vielleicht ist es die Erschöpfung, die mich schnell einschlafen lässt. Den Beginn des neuen Tages bekomme ich nicht mehr mit.

-------------------------------------------------------Ende des dritten Kapitels

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