Bitsey | Chapter 6



Ich öffne meine Augen und alles ist vorbei. Nun, nicht ganz. Ich strample mich aus meiner Decke frei und stürze ins Bad. Ist das der Preis, den ich zu zahlen habe für eine unvergleichbar schöne Zeit im Nirgendwo? Ich bin nicht sicher, ob ich bereit dafür bin.
Das Abendbrot verschwindet mit der Spülung; während ich meine Hände wasche betrachte ich mein fahles Gesicht im Spiegel. Meine Pupillen sind nicht mehr so extrem geweitet. Immerhin etwas.
Elisabetha? Alles ok?“
Vater. Mist!
Ja, alles gut. - Mann, Paps, darf ich nicht mal mehr auf Toilette gehen, ohne das du dir Sorgen machst?“, erinnere ich ihn vorwurfsvoll an seine Überfürsorge und kneife meine Wangen dabei rosig.
T'schuldige. Du, ich würde auch gerne …“ Ich öffne und tapse an ihm vorbei zurück in mein Zimmer.
Schlaf gut.“
Du auch. Bis morgen früh.“
Morgen früh? Ich nicke ihm zu und verschwinde in mein Zimmer. Tatsächlich. Es ist gerade mal dreiundzwanzig Uhr. Ich weiß nicht, wie lange ich im Nirgendwo war, aber länger als eine Stunde definitiv.

Ich öffne das Fenster um der stickigen Luft zu entkommen und sehe nach draußen. Der Mond hat abgenommen. Das heiß, dass Michael jetzt wieder ruhiger ist.
Je voller der Mond, desto animalischer wird er. Seine Triebe treten stärker hervor und bestimmen sein Handeln. In seine sonst freundlichen braunen Augen tritt dann ein verschlagener Blick. Früher habe ich ihn als böse empfunden, aber heute weiß ich, dass es so etwas wie getriebene Lüsternheit oder Blutlust ist. Je nach dem, wen er ansieht. Er ist dann wie blind. Vollkommen fixiert auf eine Person oder eine Sache. Mich hat er nie so angesehen. Ich nehme an, weil ich seine Schwester bin und selbst seine triebhafte Seite ein wenig Anstand besitzt. Zum anderen habe ich ihn nie heraus gefordert oder sein Handeln verurteilt und so seine Zerstörungswut angestachelt.
Vater hat ihn einmal Maß nehmen wollen, als heraus kam, dass er sich in seiner dunklen Stunde fast an einem Mädchen vergangen hätte. Er hat ihn Zurecht gewiesen und es gab einen riesigen Krach. Am Ende standen sich beide schnaufend und mit Blessuren übersät im demolierten Wohnzimmer gegenüber.
Vater hatte Glück, dass Michael zum damaligen Zeitpunkt ein junger Teenager war. Er hätte ihn ohne weiteres töten können. Aber es ist nicht mal die körperliche Stärke, die einen erschrecken lässt. Nein. Vielmehr diese tierische Art, die keine Moral, Grenzen oder Regeln kennt. Die tut was sie tut und die keine Gründe für ihr handeln braucht. Obwohl - vielleicht gibt es in diesem Zustand auch keinen Willen. Nur die uns ureigenen Triebe, die älter sind als jede Moral und Regel. Pur und rein, aber unverständlich für die, die sie verstecken.

Ah. Da ist sie wieder: meine bekloppte Taube. Hat sie mich geweckt? Nein. Heute gebe ich ihr keine Schuld. Es ist die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Michael. Und ich hoffe sehr, dass er bleibt.
Nach der Morgentoilette und einem kleinem – dafür mit Appetit gesegnetem – Frühstück beeile ich mich, um den Bus zu erwischen. Ich erreiche zusammen mit ihm die Haltestelle und stürze gleich nach hinten durch, wo Mark wartet.
Morgen!“, rufe ich ihm entgegen.
Oma 1 sieht mich komisch an und Oma 2 schüttelt missbilligend den Kopf. Diese Jugend, werden sie wohl denken. Ist mir egal. Ich bin glücklich.
Selber, Morgen! Was ist los? Ist er schon da?“
Er sucht die Haltestelle ab.
Nein. Aber bald!“
Hm. Du bist jetzt schon am durchdrehen. Vielleicht solltet ihr 'n Slowmotion-Wiedersehen ansetzen.“
Ich lache. „Vergiss es. Da mach ich nicht mit.“
Marks Augen funkeln verschlagen. „Acht Stunden Folter liegen noch vor dir.“
Pff. Die steh ich doch locker durch.“
Marks Grinsen wird breiter.
Wir werden sehen.“

Verdammt noch mal. Ich hätte nicht so angeben sollen. Es sind erst drei Schulstunden um – ein Ende nicht in Sicht.
Na, alles locker?“
Mark beobachtet meine Unruhe.
Pass auf, dass du mein Mathebuch nicht in deinem Gesicht vorfindest, Mark.“
Er schnaubt verächtlich. „Sie verlieren die Beherrschung, Elisabetha Garlef.“
Sorry.“
Na, hoffentlich bist du nicht enttäuscht, wenn er doch nicht da sein sollte.“
Warum sollte er nicht da sein?!“
Elisabetha kennt anscheinend die Lösung für Aufgabe 2c?“, unterbricht Herr Gregor unser Gespräch. Würdevoll schaut er über die Ränder seiner runden Brille hinweg und taxiert mich. Ich sinke kleinlaut zusammen und schüttle den Kopf. Er kann sehr streng sein. „Dann wenden Sie sich bitte der Aufgabe zu und nicht dem jungen Mann zu Ihrer Rechten.“ Tanja aus der ersten Reihe kichert mädchenhaft. Vielleicht sollte sie mal mit meinem Buch Bekanntschaft machen?
Herr Gregor setzt sich – nicht ohne noch mal zu mir zu sehen – und ich versuche mich an der Lösung der Aufgabe.
Naja“, wispert Mark mir aus dem Mundwinkeln zu. Sein Blick starr auf seinen Hefter gerichtet „Du hast selbst gesagt, da kommt gleich eine ganze Horde auf euch zu. Entweder funktioniert deren Gruppendynamik gut – oder sie sind komplett chaotisch.“
Gruppendynamik? Was redet er? Ich riskiere einen Blick auf Herrn Gregor.
Scheinst dich ja auszukennen.“
Mh.“
Macht es dir Spaß, mir den Tag madig zu machen?“
Er sieht zu mir und schüttelt den Kopf. „Du bist nur diejenige, die sich todtraurig in ihrem Zimmer verkriecht, wenn er nicht da sein sollte.“ Wir sind zu lange schon befreundet, als das er das nicht wüsste. Herr Gregors Blick streift durch den Raum. Erst als er sich seinen Unterlagen zu wendet flüstere ich zurück: „Stimmt.“

Nur noch zwei Stunden. Ich schäle mich aus meiner Strickjacke, die ich unnützer weise übergezogen habe. Es muss um die dreißig Grad warm sein. Mark und ich setzen uns unter einen Schatten spendenden Baum und warten auf die anderen zwei.
Hey!“, ruft Sue schon von weitem.
Im Schlepptau Maja, die sich überwunden hat, ihren Seidenschal abzunehmen.
Was? Maja ohne Tuch?“, spielt Mark den Erstaunten.
Das ist ein Schal, du Depp“, kontert Sue, während Maja ihn sich jetzt wohl am liebsten wieder umbinden würde. Denn ihre nun wieder glatten und zum Zopf gebundenen Haare können sie nicht schützen. Ein Hauch Rosa legt sich auf ihre Wangen.
Du hast echt keine Ahnung von so was, oder?“
Reg dich ab! Das war ein Scherz!“
So viel zur Gruppendynamik, oder? Ich glaube wir sind Kategorie zwei,“ werfe ich in den Ring.
Welche Kategorie?“, fragt Maja nach.
Die Chaoten“, erwidert Mark.
Sue schnaubt abfällig und schüttelt ihren Bob. „Ich sehe nur einen Chaoten.“
Sag mal – hast du ein Problem?“
Ich glaube er wollte fragen: Hast du deine Tage? Zumindest wäre das meine Überlegung ... er reißt sich echt zusammen.
Mmmh. Mal überlegen -“ „Lasst uns das Thema wechseln, bitte“, fahre ich dazwischen. Diese Reibereien sind nicht auszuhalten.
Bist du schon aufgeregt?“, will Maja wissen – froh, dass der Zank unterbrochen wurde. Ich zeige ihr meine klammen, zitternden Hände.
Oh, fuck!“, entfleucht es Sue trocken. „Schlimmer als eine Prüfung, he?“
Da kannst du Gift drauf nehmen. Mir ist schon ganz schlecht und flau im Magen.“
Wenn du in Brechtels Unterricht kotzt, kannst du bestimmt schon früher nach Hause“, schlägt Sue vor.
Damit mein Vater mich auf die Intensivstation verlegen lässt? Nee, lass mal. Dann lieber noch ein wenig zittern.“ Ich muss schmunzeln. Er würde das tun. „In dem Punkt kennt er keinen Spaß.“
Wegen deiner … ?“ Maja will Mutter sagen, traut sich jedoch nicht. Ich nicke.
Er kann so anstrengend sein. Dabei ist sie ja nicht an einer Krankheit gestorben.“ Ich beiße mir auf die Lippe. Eine angespannte Stille liegt zwischen uns und es wird merklich kühler.
Wir gehen wohl besser rein“, schlägt Mark mit Blick auf die ins Schulgebäude strömende Schülerschar vor. Wir beeilen uns in den jeweiligen Unterricht zu kommen.

Frau Brechtel ist eine zierliche – nein – schmächtige Frau um die vierzig Jahre. Aber sie hat eine wahnsinnig gute Röhre. Mit einer Begeisterung die alle ansteckt und mich sogar von meinem Bruder ablenkt stimmt sie am Stundenende Something's got a hold on me an. Gott, was würde ich für so eine Stimme geben!
Die Klasse gibt ihr Bestes und auch wenn es an der einen und anderen Stelle stark vom Original abweicht, hören wir nicht auf zu singen. Als das Lied sich dem Ende neigt streift mein Blick das Fenster mit Sicht auf den Parkplatz ein Stück weiter ab von der Schule. Selbst aus dieser Entfernung gibt es für mich keinen Zweifel: Michael ist da.

Die Klingel erlöst mich. Ich packe meine Sachen zusammen und stürme aus dem Raum, auf den Flur und zum Ausgang. Schiebend drücke ich mich durch die schnatternde Schar an Schülern, die ebenfalls hinaus will. Es liegt wohl daran, dass heute nicht Freitag ist – das Schneckentempo, das hier an den Tag gelegt wird, kann ich mir nicht anders erklären.
BITZ! Wo willst du hin?“
Ich glaube, Sue ist irgendwo hinter mir.
ER IST DA!“, schreie ich zurück und stürme los ohne auf eine Antwort zu warten.
Ich sprinte um das Gebäude in Richtung Parkplatz. Das leichte Ziehen in der Lungengegend ignoriere ich.
Jude!“
Er steht in einer kleinen Gruppe mit dem Rücken zu mir. Er dreht sich um; ich bemerke sein Stutzen und dann fällt für ihn der Groschen. Mit großen, schneller werdenden Schritten kommt er mir entgegen.
Mike! Nicht!“, ruft ihm ein Mann hinterher.
Ich vertraue darauf, dass er mich auffängt und mit einem riesigen Satz springe ich ihm entgegen. Sein Gleichgewicht gerät kurz aus den Fugen als er mich fängt und den Schwung nutzt um mich herum zu wirbeln. Ich lache laut auf und schlinge meine Arme fest um seinen Hals.
Ich kenne diesen Geruch. Die festen, drahtigen, braunen Haare. Das warme, dunkle Lachen.
Du bist da.“
Der Druck seiner Umarmung wird fester.
Ja.“
Ich will ihn ansehen. Seine hellbraunen Augen sind offen wie eh und je. Sein Gesicht ist markanter geworden und ein dunkler Schatten umfasst sein Kinn. Als er lächelt denke ich an den zehnjährigen Jungen auf dem Foto zurück, der über das ganze Gesicht strahlte.
Soll das ein Bart werden?“, frage ich neckend und berühre die Stoppeln an seinem Kinn.
Frech wie immer, Kleine.“
Michael grinst schelmisch, dann wirft er mich über eine Schulter.
Lass mich runter!“, schimpfe ich lachend.
Er trägt mich behände zu der Gruppe am Rande des Parkplatzes.
Neandertaler.
So, dass ist meine Schwester Elisabetha. Aber Bitsey reicht auch. Kleines Aas darf nur ich sie nennen.“
Nein, darfst du nicht!“, kontere ich sofort.
Netter Hintern. Vielleicht solltest du sie mal herunter lassen“, sagt einer der Männer. Die Umstehenden lachen. Eine Frau mahnt: „Daniel, du hinterlässt wieder mal einen bleibenden Eindruck!“
Ich glaube, ich werde so rot wie sonst nur Maja es kann.
Michael hebt mich herunter. Ich sehe in verblüffte, belustigte und auch erleichterte Gesichter unterschiedlichen Alters.
Oh. Ähm. Schön das ihr da seit!“
Da bist du sprachlos, nicht war? - Bitsey, das ist Daniel. Daniel, behalte deine Finger bei dir.“
Ich reiche einem hoch gewachsenen jungen Mann zu meiner Linken die Hand. Seine dunkelblonden Haare sind kürzer als Michaels und er hat eine ausgeprägte Brauenpartie. Er kann nicht viel älter als ich sein.
Hallo.“
Hi.“
So geht es Reih um weiter: Chris hat leuchtend grüne Augen und seine wilden, hellbraunen Haare geben seinem unverschämt schönen Gesicht einen perfekten Rahmen. Er trägt einen Dreitagebart und muss etwa Michaels Alter haben.
Der Enddreißiger Tristan sticht durch seinen südländischen Touch hervor. Seine dunklen Augen und Haare, sowie die gerade Nase verleihen ihm einen aristokratischen Zug. Er wirkt auf mich aber sehr freundlich und nahbar. In seiner samtenen Stimme erkenne ich ihn als denjenigen, welcher meinem Bruder hinterher rief.
Er hält eine Frau gleichen Alters im Arm. Sie wirkt so unscheinbar, aber auf den zweiten Blick erkenne ich ihre filigrane Anmut. Sie streicht sich eine blonde Strähne hinters Ohr die ihren blauen Augen die Sicht versperrte. Ich traue mich nicht ihre Hand allzu fest zu drücken.
Hallo, Bitsey. Ich bin June.“
June, Tristan, Chris und Daniel Beardsley sind meine Zweitfamilie“, sagt Jude leise, als wären seine Worte eine Waffe. Es tut weh daran zudenken, dass sie ihm das geben können, was uns nicht möglich war. Aber wenn es ihm gut geht, werde ich mich zusammen reißen.
Ich entziehe mich seiner Hand und gehe ein Stück weit ab um sie alle im Blick zu haben. Michael - im Glauben, dass ich mich von ihm abwende - schaut entsetzt.
Nein. Ich denke es …
Passt doch perfekt.“
Michael stößt einen Seufzer der Erleichterung aus. Und auch den anderen scheinen Steine von den Herzen zu fallen.

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