Bitsey | Chapter 7
Erst
jetzt fällt mir ein, das Sue irgendwo hinter mir war …
Sie
und die anderen zwei stehen im großen Abstand zu uns. Ich winke sie
heran und sie folgen.
„Sie
wissen nach wie vor nichts“, teile ich Michael mit, ehe sie bei uns
sind.
Er
nickt wissend. „Vater sagte das bereits.“
„Ihr
wart also schon dort?“
„Jupp.
Die anderen sind dort geblieben. Ich wollte dir meine Fa …
Zweitfamilie im kleinen Kreis vorstellen.“
„Du
kannst ruhig Familie sagen“, erlaube ich ihm leise. Kam das gerade
aus meinem Mund? Auch Michael ist überrascht. „Du hast eben zwei
Familien. Das kann nicht jeder von sich behaupten, oder?“
Mittlerweile
sind meine drei Freunde da und ich stelle sie vor. Daniel, Chris und
Mark sind sofort auf einer Wellenlänge. Sie unterhalten sich
angeregt über ein Basketballteam aus den USA. Mir fällt auf, dass
sie sehr gut Deutsch reden. Ich spreche Michael darauf an.
„Wir
haben eben ein schnelles Auffassungsvermögen.“
„Ach
komm. Das glaub ich dir nicht.“
Doch
Michael bleibt ernst. „Eines der wenigen Vorteile.“
Ich
verabschiede mich von Sue und Maja, die ein wenig traurig sind, nicht
mitkommen zu können. Dann folge ich Michael in das Innere eines
schicken, schwarzen Hummer. Mr. oder Herr Beardsley (ich weiß nicht,
wofür ich mich entscheiden soll), der gleich gemerkt hat, wie gut
die jungen Männer miteinander auskommen und zudem erfahren hat das
Mark in unserer Nähe wohnt, hat ihm angeboten mitzukommen.
Mark
lotst Tristan Beardsley durch den Verkehr. Er fährt sehr
vorausschauend – als wüsste er, was alle anderen
Verkehrsteilnehmer vorhaben. Michael beugt sich zu mir herab und
tippt sich gegen die Stirn. „Wolfsradar – wenn es das ist, was
dich beschäftigt.“
„Vorteil
Nummer 2?“
Michael
wägt ab. „Kommt drauf an, wobei du es einsetzt.“
Verstehe.
Michael hat eine Menge gelernt. Bestimmt konnte er vieles schon zu
der Zeit, als er noch bei uns lebte, aber nun kennt er seine
Fähigkeiten.
Herr
Beardsley hält vor Marks Haus; der sich von den anderen
verabschiedet.
„Bis
morgen, Bitz!“
„Ja,
ciao.“
Mark
schlendert zum Haus und wir kehren um.
„Dein
Freund?“, forscht Daniel nach.
„Dan,
bitte.“ June dreht sich auf dem Beifahrersitz zu uns um.
„Schon
ok, Frau Beardsley.“
„Würdest
du bitte June sagen? Das wäre mir lieber.“
„Gerne.
Mark ist ein Freund, ja. Wir kennen uns seit langem“, antworte ich
Daniel.
Der
grinst verschlagen. Michael funkelt ihn böse an.
„Machst
du gerade meine kleine Schwester an?“
Daniel
zwinkert mir zu.
„Daniel.“
Tristan sagt es ruhig und leise, aber es hat etwas endgültiges.
Hatte er uns im Rückspiegel beobachtet?
Ich
bin froh, als ich aus dem Auto steigen kann.
„Ist
sie das?!“
Eine
junge Frau stürmt mir entgegen. Ich registriere noch schwarz
geschminkte, grüne Augen in einem Alabastergesicht, als ihre Arme
schon um meinen Hals liegen. Leuchtend kirschrote Haare kitzeln mein
Gesicht.
„Hi?“
Sie
löst sich von mir. Wir sind gleich groß.
„Hi,
ich bin Christin. Du bist Mikes – äh, Michaels Schwester“,
stellt sie erfreut fest. Sie mustert mich lächelnd.
„Ähm,
ja.“ Ich bin etwas irritiert. „Ja, bin ich.“
„Robert,
komm schon! Hey! Wo bleibst du denn? - Komm, dann gehen wir eben zu
ihm.“
Sie
packt meine Hand und zieht mich hinter sich her. Robert? Was? Ich
drehe mich um. Michael zuckt seine Schultern. „Sie ist ein
Wirbelwind.“
Familie
Beardsley folgt uns in den Garten.
In
trauter Runde stehen - beziehungsweise sitzen - Familie und Gäste
beisammen. Eine Menge Gäste. Christin schleift mich weiter.
„Hallo,
Kleine.“ Großvater lächelt mir zu. „Hallo Opa.“ „Soll ich
das Vorstellen übernehmen?“ Niemand erhebt Einwände. „Schön.
Also, das ist meine Enkelin Elisabetha.“
Ich
nicke - oder rucke ich? - mit dem Kopf. Lächeln, Bitsey.
Bei
meiner jahrelangen Recherche war zwar von Rudeln und Zusammenkünften
zu lesen, genauso wie von ewigen Einzelgängern, aber diese
Familienbande sind mir neu. Einträchtig und vertraut sitzen und
stehen sie alle beisammen. Die Stimme meines Großvaters holt mich in
die Gegenwart zurück.
„Christin
hast du bereits kennen gelernt, nehme ich an. Sie gehört zur Familie
Weiher. Ebenso wie Lisa, Johannes, Jan und Esther.“ Alle genannten
lächeln und ich reiche ihnen die Hand. Lisa schätze ich älter, als
meinen Vater. Vielleicht achtundvierzig? Sie trägt ihre leicht
ergrauten, aber sonst blonden Haare bis unters Kinn. Ihre grauen
Augen sind groß und sehen mich freundlich an.
Ihren
Mann Johannes schätze ich auf etwa fünfzig. Seine dunklen Haare
sind an den Schläfen grau, was ihm gut steht. Er hat kleine,
hellbraune Augen. Jan wirkt jungenhaft, aber seine blitzenden Augen
lenken nur bedingt von den ersten kleinen Fältchen auf der Stirn ab.
Esther muss etwa so alt sein wie Christin, Anfang zwanzig. Sie hat
wundervolle blonde Haare und zusammen mit den hellblauen Augen kommt
sie mir wie ein Engel vor.
„Michael
hat so viel von dir erzählt.“
Ich
schaue zu Michael. Er läuft nicht rot an, aber er guckt ein wenig
dümmlich aus der Wäsche. Aha.
„Davon
stimmt wahrscheinlich nur die Hälfte.“ Es ist mir peinlich, dass
die Gäste mich vom erzählen kennen, ich aber keinen einzigen.
Esther schüttelt ihren herrlichen Kopf.
„Ich
glaube sogar, er hat untertrieben.“
Ach
herje! Na dann, benimm dich bloß, Bitsey.
Großvater
führt fort.: „Und schließlich Familie Greg, Rhea, Katinka,
Robert, Sakura und Aleksander Lefroy.“
Auch
ihnen reiche ich nacheinander die Hand, angefangen bei Rhea. Sie
weckt ein Gefühl in mir, dass ich erst einordnen muss. Und als mir
ihre freundlichen dunklen Augen herzen, umrahmt von wilden, noch
dunkleren Locken, weiß ich was es ist: eine
Mutter-Tochter-Verbindung. Auch sie scheint so etwas zu spüren, denn
sie schließt mich wie Christin in ihre Arme. Ich muss mich
beherrschen. Widerwillig löse ich mich von ihr und nehme Gregs Hand.
Einen Moment sehe ich ihn sprachlos an. Ein nervöses Kichern
entwischt mir. Greg schmunzelt.
„Bin
ich so lustig anzuschauen?“
„Nein,
Verzeihung. Nur – kennen Sie das Bild von Heine? Das, wo er auf
einem Stuhl sitzt?“, sprudelt es aus mir heraus.
Greg
lacht lauthals: „Ich muss dich warnen: ich besitze nicht
ansatzweise sein Talent im Dichten und Schreiben. - Sag ruhig Greg zu
mir. Ich denke das gilt für alle in der Runde.“
„Ich
heiße aber nicht Greg“, meint Daniel gespielt entrüstet.
„Ignoriere
ihn einfach. Ich bin übrigens Katinka,“ stellt sich eine
Teenagerin vor. Sie ist vielleicht sogar siebzehn wie ich. Sie hat
Rheas Augen, aber ihre langen, in Wellen fließenden Haare sind von
einem zarten Braun, wie Gregs.
„Ein
sehr schöner Name.“
Katinka
strahlt. Greg und Rhea ebenfalls.
Als
nächster reiche ich also Sakura die Hand. Die zierliche Japanerin
sieht schüchtern aus. Vielleicht ist es ihre Mentalität. Ein paar
schwarze Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst haben, fallen ihr
locker ins helle Gesicht. Ihre dunklen, mandelförmigen Augen blitzen
auf und ich denke, dass sie auch anders sein kann.
Ich
wende mich einem jungen Mann zu.
„Hi,
ich bin Robert. Mike meinte, ich würde dir gleich g-“
„Du
siehst aus wie Horst Buchholz! Heilige Schei-“ „Elisabetha!“
Ich beiße mir auf die Lippen. Alle außer Großmutter lachen.
„Er
sagte, du wärst ein Fan von ihm. “
„Ich
sehe gerne die alten Filme mit ihm. Tut mir leid. Du siehst ihm aber
auch verdammt ähnlich.“
„Kein
Problem. Autogramme gebe ich aber nicht.“
„Nicht
schlimm, ich habe eines.“
Ich
glaube es nicht: Heinrich Heine und Horst Buchholz! Kann es noch
besser werden?
Aleksander
ist der letzte in der Runde, dem ich meine Hand reiche. Ich sehe in
ein Paar stählerne Augen in einem markant geschnittenen Gesicht.
Über seiner Oberlippe und entlang seines Kinns wächst ein
Dreitagebart. Er sieht aus, als stehe er im Training wie die anderen,
aber nur bei ihm bildet sich in meinem Kopf das Wort scharf.
Er fährt sich durch die eh schon verwuschelten, dunkelblonden Haare,
bevor er mir seine Hand reicht. Sehnig. Schneidig.
In
dem Moment, wo sich unsere Hände berühren stockt mir der Atem. Es
ist als schlüge ein zweites Herz in meiner Brust. Da IST ein zweites
Herz! Sie schlagen außer Takt. Erst meines dann – seines?
Zu
spät bemerke ich, dass der Handschlag schon zu lange dauert. Doch
Aleksander lässt mich nicht los. Er atmet nicht und scheint nicht
wirklich anwesend zu sein. Rhea merkt als erste, dass etwas nicht
stimmt.
„Greg.“
Greg
geht hinter Aleksander und hält ihm seine Hände vor die Augen. Der
Griff wird lockerer und Rhea öffnet seine Hand ganz. Ich stolpere
rückwärts in Michael hinein.
„Jude,
was – was ist mit ihm?“
„Alles
in Ordnung, Bitsey. Ich muss dir da was erklären.“
Er
führt mich aus der Runde zum Haus.
„Erinnerst
du dich an das, was ich dir im Brief geschrieben habe?“
„Es
ging um die Garage, Fleisch, meine Neugier und deine Haare, die
definitiv nicht länger sind als meine.“ Michael ist kurz verwirrt
und faselt etwas von „vorher noch geschnitten“. „Nein, ich
meine den Punkt mit der Neugier.“ Er pausiert und fährt sich durch
die hellbraunen Haare.
„Ja?“,
hake ich nach.
„Man,
ich hatte mir das anders vorgestellt. Aber -“, er pausiert und
sieht von mir zu Aleksander.
„Michael?
Stimmt was nicht?“
„Also,
ich bin doch ein Wertier. Jemand, dessen Triebe schnell die Oberhand
gewinnen.“ Ich nicke. Das ist mir nicht neu. „Und Esther …
durch sie bin ich selbst in Vollmondnächten, ähm, besonnener.“
„Du
meinst, du bist dann ruhiger?“
„Nein,
das trifft es nicht so ganz. Wir sind irgendwie miteinander verbunden
und ihr Verstand, ihre menschliche Seite gleicht die Triebe in mir
aus. Erinnerst du dich an die Zeichnung von Freuds Modell, die ich
dir damals gezeigt habe?“
„Das
Ich, sein Über-Ich und sein Es?“
„Genau.
Als Wertier schaltet mein Es mein Über-Ich aus. Esther schaltet es
wieder an.“
Michael
schaut mir tief in die Augen, als erwarte er das ich etwas sage.
„Christin tut dasselbe für Robert, Rhea für Greg, Suki für Jan,
June für Tristan“, er zögert. „Und du für -“
„Aleksander“,
flüstere ich schockiert.
Michael
beobachtet meinen Ausdruck.
„Es
ist nichts schlimmes dabei. Ganz im Gegenteil: Alex gewinnt ein wenig
Freiheit, von der andere Wertiere wie Johannes ein Leben lang nur
träumen können!“
Das
ist ein Vorteil für ihn, klar. Wenn er den Hauptpreis in dieser
Beziehung hat, habe ich die Niete gezogen? Dann bekomme ich also den
Schwarzen Peter zu geschoben?
„Was
heißt das im Klartext für mich?“
„Er
wird dich vielleicht bitten, in Vollmondnächten wach zu bleiben. Und
du wirst spüren, wie es ihm geht und er wird ebenso wissen wie du
dich fühlst.“
Bingo.
Die Niete. Das schmeckt mir überhaupt nicht.
„Kann
man da nicht was machen?“ Ich habe meine Frage nur zur Hälfte
gestellt, da lese ich in Michaels Gesicht die Antwort. Nein. Da ist
nichts zu machen.
Er
legt eine Hand auf meine Schulter und ruckt sie kurz. „Sieh dir
Esther und mich an! Wir sind nicht nur Seelenverwandte, sondern auch
ein Paar. Oder Christin und Robert. Sie sind beste Freunde. Verstehen
sich blind.“
Ich
versuche es mit einem Lächeln. Mir fallen da nur diese stählernen
Augen ein und ein Gefühl in mir sagt, dass weder eine
Seelenverwandtschaft noch eine einfache Freundschaft für uns in
Frage kommen wird. Ich denke, es ist mein Herz und sein Phantom, die
nicht im selben Takt schlagen, welche mich auf diesen Gedanken
bringen. Plötzlich möchte ich nicht zu der Gruppe zurück. Wo ist
ein Loch, wenn man es mal braucht?
„Damit
gehörst du jetzt auch zur Familie!“, fällt Michael ein. „Das
ändert natürlich vieles. Wenn wir irgendwann weiterreisen, wirst du
uns begleiten können.“
Ich
stöhne auf.
„Was?“
„Paps
wird vor Freude an die Decke gehen.“
Michael
hat er ziehen lassen, weil es nicht anders ging. Mir wird er das
nicht erlauben.
„Naja,
du wirst achtzehn. Und außerdem: so früh wollten wir die Zelte nun
auch wieder nicht abbrechen.“
Ich
lache nervös auf. „Paps lässt mich nicht mal Fahrstunden nehmen,
solange ich nicht einundzwanzig bin! Da wird er mich wohl kaum
verreisen lassen.“
„Ach
komm! Du übertreibst.“
„Jude.
Meine Klasse war letztes Jahr in England. Er ist heimlich hinterher
gereist und hat auf mich aufgepasst. Wenn ich kurz huste, um einen
Reiz im Hals los zu werden, schüttelt er schon die Medizinflaschen
und vor ein paar Tagen hätte er mich fast in die Notaufnahme
gefahren, weil mir übel war. Ich übertreibe definitiv nicht!“
„Autsch.
Unser Vater eine Überglucke!?“
Ich
nicke grimmig und Michael seufzt.
„Wir
kriegen das schon hin. Komm, wir gehen wieder zurück.“
Nichts
möchte ich weniger als das.
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