Bitsey | Chapter 4
Eine
morgendliche Übelkeit lässt mich vor dem Wecker aufstehen. Schnell
und leise verschwinde ich im Bad und übergebe mich – so langsam
gewöhne ich mich daran. Aber es ist diesmal anders. Es schmeckt
bitter und das Rot dabei weckt ein ungutes Gefühl in mir.
Mein
Gesicht ist nach wie vor aschfahl und die Augen immer noch zu dunkel.
Der untere Bereich der Zunge ist rot und gereizt. Ich greife nach
meinem Make-Up und vertusche das Offensichtliche: nämlich, dass ich
mies aussehe. Die Augenringe kann ich verstecken, doch was ich mit
den Pupillen anstellen soll, weiß ich nicht.
Zurück
im Zimmer packe ich schnell meine Schulsachen zusammen und verstaue
den Flacon und die anderen Utensilien im Kleiderschrank zwischen der
Unterwäsche. Dort würde niemand nachschauen.
„Guten
Morgen!“
Betont
fröhlich betrete ich die Küche. Vater sitzt mit aufgeschlagener
Zeitung am Tisch und runzelt die Stirn.
„Morgen.
Wie geht es dir?“
„Gut.“
Er
sieht mit der Antwort nicht zufrieden aus.
„Ich
glaube, das ist die Aufregung gewesen. Ich meine, Jude kommt wieder!
Es hat mich wahrscheinlich einfach umgehauen.“
„Also
ich weiß nicht. Wir könnten noch kurz bei Dr. Möbius
vorbeischauen.“
Dr.
Möbius war ein aufmerksamer Arzt im Ruhestand, aber unsere Familie
durfte ihn trotzdem aufsuchen. Zudem lebte er drei Häuser weiter mit
seiner molligen, herzallerliebsten Frau.
Ich
schüttelte den Kopf.
„Paps,
du kennst meinen Bauch. Setz mir eine Prüfung vor die Nase und die
Info geht gleich an meinen Magen“, winke ich ab. „Du glaubst es
nicht, aber ich könnte gerade Bäume vor Freude ausreißen!“
Er
nickt langsam und kneift dann seine Augen gefährlich zusammen.
„Wenn
das in der Schule passiert, rufst du mich sofort an, klar?!“
„Wenn
ich über der Schüssel hänge, oder davor? War ein Scherz!“,
korrigiere ich mich sofort, als ich seinen Blick zu spüren bekomme. „Ich
verspreche, dass ich dir Bescheid gebe, wenn's mir nicht gut geht.“
Vater
seufzt schwer und widmet sich wieder seiner Zeitung.
Ich
überlege unterdessen, ob ich es wagen kann, feste Nahrung zu mir
zunehmen. Mein Appetit schreit laut „Nein!“, aber wenn ich hier
weg kommen will, muss ich gute Miene zum bösen Spiel machen. Ich
greife zum Zwieback und bestücke ihn mit Bananenscheiben. Nur für
den Fall.
Der
Bus hält direkt vor meiner Nase. Ich weise mich als Schülerin aus
und halte im fast leeren Bus nach Mark Ausschau. Er sitzt mit
geschlossenen Augen in der hintersten Ecke und hört Musik. Ich setze
mich zu ihm.
„Hi!“
Er
bemerkt mich nicht. Stattdessen hebt und senkt sich sein Brustkorb
gleichmäßig; sein Gesicht schaut so friedlich aus. Na, toll. Er
schläft.
Enttäuscht
darüber, ihm nicht von Jude erzählen zu können, stelle ich mir in
Gedanken vor, wie unsere Zusammenkunft nach so langer Zeit aussehen
mag. Ich muss sagen: eine Szene ist besser als die andere.
Kurz
bevor wir an der Haltestelle sind, an der wir aussteigen müssen,
rüttle ich Mark sanft aus seinem Schlaf. Er sieht aus, wie ich mich
fühle. Richtig fertig. Er streicht sich durch sein kurzes,
hellbraunes Haar, das mal einen Kamm vertragen könnte und murmelt
ein verschlafenes: „Morgen, Bitz“.
Zumindest
nehme ich an, das es das heißen sollte.
„Ich
frage wohl besser nicht, wie dein Wochenende war, oder?“
Er
schüttelt nur den Kopf. Doch dann scheint er sich eines Besseren zu
besinnen.
„Ich
pack das nicht. Erst dachte ich: das isses, man. Aber ich kriegs
nicht auf die Reihe, verstehst du?“
Ich
reime mir zusammen, dass es um diese Kiffergeschichte geht, in der er
gerade steckt.
„Mein
Vater weiß, Bescheid. Irgendwer hat's ihm gesteckt.“
Er
sieht mich leicht anklagend an.
„Ich
hab nichts gesagt. Ich hätte es gerne getan, aber Sue sagte, dass
wär dein Bier.“
„Mmh.“
„Ich
fände es echt gut, wenn du das sein ließest, Mark. Das bist nicht
du.“
„So.
Und wer bin ich dann?“
Ich
zucke mit den Schultern. „Du bist mehr wie Jude.“
Er
lässt sich den Gedanken durch den Kopf gehen.
„Ich
denke, damit kann ich leben“, sagt er nach einer Weile.
„Das
wird ihn freuen. Er kommt übrigens morgen.“
Mark
sieht mich ungläubig an.
„Ich
lade dich ein. Dann kannst du alle kennenlernen.“
„Hä?
Wie, alle?“
Auf
dem Weg zur Schule erkläre ich ihm alles, aber nur soviel, wie Sue
und Maja auch wissen.
„ ...
jedenfalls bin ich echt erleichtert, dass du wieder ansprechbar
bist.“ Sue klopft Mark gönnerhaft auf die Schulter. Die Pause ist
fast zu ende, als Sue endlich mit ihrer Strafpredigt aufhört.
„Ich
hatte ganz vergessen, wie anstrengend sie sein kann“, flüstert
Mark für jedermann hörbar. Ich schmunzle.
„Sieh
dich vor und überlege dir gut, ob du zu den anderen zurück gehst.
Sie hat von dieser Rede noch mehr auf Lager, glaub mir.“
„Oh,
ja! Maja ist fast umgekommen vor Sorge um dich Idioten.“ Maja wird
puterrot und versteckt ihr Gesicht hinterm eisblauen Seidenschal.
„Wann kommt dein Bruder nun?“, fragt Sue auf dem Weg in den
Klassenraum.
„Weiß
nicht. Morgen Mittag?“
„Das
ist doch blöd! Warum müssen wir am Dienstag acht Stunden haben?“
„Damit
wir sie am Freitag nicht haben?“
„Ha-ha-ha.
Du bist sooo witzig, Mark.“
„Immer
wieder gerne.“
Die
beiden kabbeln sich bis es läutet. Herr Binsen – rund und gesund -
ruft zur Ordnung und beginnt seinen Geschichtsunterricht mit der
Wiederholung des letzten Themas. Der Untergang des deutschen
Kaiserreiches. Warum werden eigentlich immer die langweiligen Fakten
der Geschichte behandelt? Warum nicht über Aberglaube reden?
Immerhin lebte die Menschheit länger mit Aber- als mit Unglaube auf
diesem Planeten! Seancen, Beschwörungen, Hexenverfolgungen ... Mehr
aus Langeweile, denn aus Interesse schreibe ich mir Stichpunkte zu
Binsens Ausführungen auf.
„Und
Sie träumen wovon, Susanna?“, fragt Herr Binsen unvermittelt. Ich
hebe meinen Blick und schaue zu Sue. Die hat ihr Kinn mit der Hand
abgestützt und ihrem verklärten Blick nach war sie kurz im
Traumland gewesen.
„Vom
Ende des Kaiserreiches?“
„Passen
Sie besser auf. Nächstes Jahr stehen Ihre Prüfungen an. Dies könnte
dann durchaus zur Debatte stehen!“
Sue
richtet sich auf und gibt sich geläutert.
Mir
hingegen ist urplötzlich etwas eingefallen und darauf gebracht hat
mich Herr Binsen. Träume! Was war letzte Nacht passiert? War
überhaupt etwas geschehen? Ich überlege lange und angestrengt, doch
ich kann mich an nichts erinnern. Nicht einmal, was ich geträumt
habe. Ich bin enttäuscht. Da hatte ich meiner Gesundheit geschadet
und nichts ist dabei heraus gekommen. Vielleicht habe ich etwas
falsch gemacht oder vergessen? Bevor Herr Binsen mich bei meiner
geistigen Abwesenheit erwischt, kehre ich für den Rest der zwei
Stunden zum Kaiserreich zurück.
Sue
und ich stöhnen im Duett.
„Endlich
Schluss für heute. Sagt mal, geht der wirklich davon aus, dass wir
uns in Geschichte prüfen lassen?“, wirft Sue in die Runde.
„Ich
hatte überlegt, das zu tun ...“, kommt es kleinlaut von Maja. Sue
streicht sich entgeistert eine braune Strähne aus dem Gesicht.
„Naja,
du kannst das von uns vier wohl am ehesten schaffen. Obwohl du
ja auch ständig deine Nase in irgendwelche Bücher steckst.“ Sie
sieht mich herausfordernd an.
Sicher,
ich habe etliche Bücher über Geschichte in den Händen gehabt. Aber
ich hab mich doch mehr mit den Informationen zwischen den Zeilen
befasst. Wolfsplagen, Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen.
Immer auf der Suche nach Hinweisen, die ich für meine Mission
gebrauchen könnte.
„Ich
hab mich mehr so für die Bilder interessiert.“
„Schon
klar.“
Wir
verlassen den Schulhof und am Tor wartet kein geringerer als mein
Vater.
„Hallo!
Schön dich zu sehen, Mark. Euch natürlich auch. - Wie geht es dir
jetzt?“, fragt er mich besorgt.
Ich
glaub es einfach nicht. Bitte, lieber Gott, lass mich nicht vor ihm
sterben, er dreht sonst völlig durch!
„Es
ist alles gut, Paps.“ Ich sage das in dem
Danke-das-du-das-vor-meinen-Freunden-ansprichst-Ton.
„Dir
geht es nicht gut?!“ Maja wird bleich. „Das wusste ich n-“ „Es
geht mir gut. Mir war gestern ein wenig schlecht, aber es ist alles
in Ordnung!“, versichere ich ihr. Außer das ich noch stark gegen
die Erschöpfung ankämpfe, an Appetitlosigkeit leide und meine
Augen zu dunkel sind, was glücklicherweise niemandem aufgefallen
ist. „Deswegen hab ich auch nichts gesagt.“
Vater
sieht die anderen fragend an.
„Sie
war so wie immer“, bestätigt Mark. Vater scheint zufrieden zu sein
und führt uns zum Auto.
„Was
hältst du davon, wenn wir am Samstag eine Willkommen-Party feiern?
Dann könnt ihr auch alle kommen.“
„Klasse,
Paps! Wir hatten schon Angst, dass uns morgen nicht viel Zeit bliebe,
weil wir doch acht Stunden haben.“
„Daran
dachte ich auch. Außerdem möchten sie vielleicht erst zur Ruhe
kommen, nach der langen Reise. - Ach ja! Ich bin offen für
kulinarische Vorschläge. Wenn ihr etwas Bestimmtes essen möchtet,
sagt es nur. Ich werde sehen, was sich machen lässt.“
So
spontan fiel uns nichts ein, versprachen aber darüber nach zu
denken.
Nach
und nach setzen wir die anderen ab. Mark wohnt ein Stück weiter raus
und Vater lässt es sich nicht nehmen, trotz Marks Einwände, ihn bis
dorthin zufahren. Mich setzt er vorher ebenfalls ab. Sicher würde er
Mark über mich und mein „Gebrechen“ ausquetschen.
Kaum
habe ich den Schlüssel in der Haustier umgedreht, da ruft Großvater
mir aus dem Wohnzimmer entgegen: „Hallo, Kleine. Gar nicht im
Krankenhaus?“
Auf
dem Weg zu ihm, erwidere ich seinen Gruß und tue leicht pikiert.
Großvater schmunzelt in seinen angegrauten Bart.
„Er
reagiert voll über!“
Großvater
legt sein Buch zur Seite. „Karl sagt, dass es dir richtig schlecht
ging.“
„Jaa,
schon. Ich hab mich übergeben. Wann hat er das letzte mal gekotzt
und dabei gestrahlt wie die Sonne?“
Er
lacht.:„Wo steckt er denn?“
„Fährt
Mark nach Hause.“
„Aha.
- Da fällt mir ein, wie geht es ihm? Sein Vater hat mir da was
erzählt“, fügt er erklärend hinzu.
„Weiß
nicht. Ich hab versucht, ihn ein wenig abzulenken. Er freut sich
übrigens auch Jude wieder zusehen. Es wäre toll, wenn da ein paar
Männer seines Alters dabei wären, die nicht diesen schlechten
Einfluss auf ihn hätten.“
Großvater
nickt.
„Wo
ist Oma?“
„Im
Garten. Sie will Ordnung machen.“
Ich
hebe eine Augenbraue. „Da kommt eine Gruppe von … überaktiven
Menschen und sie-“ „Schafft Ordnung. Jepp. Ich habe versucht sie
davon zu überzeugen, dass das keinen Sinn macht aber-“, nun
räusperte er sich und hob die Stimme: „Nun, dann brauchen wir uns
auch nicht mehr zu waschen, wir werden ja eh wieder dreckig, nicht
wahr?“
Wir
lachen über seine gelungene Oma-Darstellung.
„Dann
geh ich mal lieber nach oben und setze mich an die Hausaufgaben,
bevor ich nach draußen abkommandiert werden.“
„Tu
das, Kleine.“ Er schiebt seine Billig-Brille zur Nasenwurzel
hinauf und wendet sich seinem Buch zu.
Da
die Sommerferien vor der Tür stehen, fallen die Schulaufgaben etwas
magerer aus. Stoffwiederholung und Aufarbeitung bestimmen die letzten
Tage der elften Klasse. Ich weiß, dass ich mich daran halten sollte,
aber mir geht wichtigeres durch den Kopf. Die Sache vom Vorabend und
die darauf folgende ereignislose Nacht geben mir mehr zu denken, als
das gesamte letzte Schuljahr.
Zum
wiederholten Mal lese ich den Zettel mit den Anweisungen durch. Punkt
für Punkt. Ich finde den Fehler nicht. Ich habe jede der Anweisungen
befolgt. Gut. Das mit dem Blut ist schon grenzwertig. Vielleicht war
es nicht mehr brauchbar? Aber dann müsste ich das alles noch einmal
durchstehen. Nein, danke. Kein Bedarf. Ich beschließe, dran zu
bleiben. Ich werde jeden Abend diese Asche schlucken. Vielleicht
braucht so etwas seine Zeit.
Eher
lustlos greife ich in meine Tasche und ziehe das Geschichtsbuch
heraus, lege mich aufs Bett und blättere darin bis ich die Seite zum
aktuellen Thema aufschlage. Ich habe erst eine Seite gelesen, als
Großmutter mich nach draußen bittet. Auch gut. So kann ich gleich
wieder Brennmaterial suchen.
„Diese
kleinen Biester sind überall. Nimm du das Messer, ich kümmere mich
derweil um die Kübel.“
Großmutter
drückt mir ein kleines Küchenmesser in die Hand. Mit den Biestern
meint sie Schnecken die gemächlich ihre Bahnen im Gemüsebeet
ziehen. Und ich soll sie aufspießen und entsorgen. Ich sammle die
Schnecken heraus – auch die, die unter den Blättern sitzen - und
bringe sie zum Komposthaufen. Früher hab ich das nach Großmutters
Methode gemacht, aber die gefällt mir schon lange nicht mehr.
„Elisabetha,
das Messer!“, mahnt sie mich wild fuchtelnd.
„Jaaah.“
„Die
kommen alle wieder.“
„Dann
sammle ich sie wieder raus.“
Großmutters
Gesicht bekommt einen harten Zug. Sie mag es nicht, wenn man ihr
widerspricht und ich tue das leider sehr oft. Ich will es nicht, aber
sie fordert mich immer wieder heraus.
„Das
kenne ich! Und schlussendlich stehe ich dann im Beet und mache es
alleine.“
„Vielleicht
sollten wir das Beet einfach abschaffen“, sage ich mehr zu mir.
„Wie
bitte?“
„Nein,
ich werde dir helfen. Mach ich doch immer“, rufe ich ihr zu.
Das
kann sie nicht leugnen und sie weiß das.
Die
kleine Plage kriecht auf dem Komposthaufen, aber selbstverständlich
gibt es noch mehr zu tun. (Wo ist Vater überhaupt? Drückt sich
wahrscheinlich erfolgreich vor der Arbeit.) Großmutter gestattet
mir, das Unkraut zu entfernen, da gesellt sich Großvater zu mir.
Sein Bauch hindert ihn sich tief zu Bücken also kniet er sich hin.
Schweigend entkrauten wir das Beet. Erst als Vater zur Abendbrotzeit
auftaucht beenden wir unser Schweigen und die Arbeit.
„Oma
weiß, wie man Menschen beschäftigt.“
Großvater
lacht: „Ja. Sie ist eine wahre Führungsgröße. War sie damals
schon, als ich sie kennenlernte.“
Wie
die beiden zueinander gefunden haben wird mir immer ein Rätsel sein.
Er scheint meine Gedanken zu lesen.
„Sie
kann auch anders.“
Fragend
schaue ich ihn an.
„Glaubst
du mir nicht? Wenn Anna und ich allein sind -“
„Argh!
Nein. Stopp!“
„Was
ist?“
„Kopfkino.“
Er
überlegt eine Sekunde, dann fällt der Groschen und er lacht.
„So
prüde?“
„Bitte,
sag nichts mehr, Opa!“
Er
lacht über mein peinlich berührtes Gehabe. Bin ich prüde?
Vielleicht. Aber ich habe wirklich nicht das Bedürfnis, mir die
beiden in einer intimen Situation vorzustellen.
„Kommst
du?“
Großvater
steht auf, um ins Haus zu gehen.
„Ja,
gleich.“
Schließlich
brauche ich noch ein paar Blätter von unserem Nachbarn.
Mit
den Blättern in den Hosentaschen eile ich aufs Zimmer und verstecke
sie unterm Bett. Mein Blick fällt dabei auf das offene Buch.
Zwischen den Seiten klemmt ein kleines Kärtchen.
Eine
Ecke der elfenbeinfarbenen Karte ist gefaltet worden und im Zentrum
stehen in der schönsten Handschrift, die mir je unter die Augen
gekommen ist, zwei schwarze Buchstaben: p.c.
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