Bitsey | Chapter 5

Ich drehe die Karte um, doch die Rückseite ist leer. Ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Vielleicht war sie schon immer in dem Buch und sie ist mir nie aufgefallen? So blind kann ich zwar nicht sein, aber da ich momentan etwas durch den Wind bin, wäre es doch möglich. Bestimmt hat sich der Vorbesitzer Notizen gemacht und das ist eine Abkürzung für … ja, wofür eigentlich?
  Ich betrachte sie eingehend. Ich kenne mich nicht aus, aber ich schätze es ist ein teureres Papier als das in meinem Block. So edel. Aber bei einer Schrift wie dieser mehr als angemessen. Selbst der Knick hat Stil. Wenn ich ein Papier falze sieht es aus wie von Kinderhand. Weder gerade noch schief. Ich lege die Karte an ihren ursprünglichen Platz und schließe das Buch. Mir fällt ein, dass das Abendessen ansteht und gehe hinunter in die Küche.
  Großmutter bereitet einen Salat zu und Vater sucht das Geschirr zusammen.
  „Essen wir draußen?“
  „Ja. Du kannst das Tablett bitte mit raus nehmen.“
Ich balanciere das voll bestückte Tablett auf die kleine Terrasse und atme innerlich aus, als ich es unbeschadet auf den Tisch absetze. Ich verteile seinen Inhalt auf dem Tisch und sortiere die Teller, die mein Vater mir reicht, den Plätzen zu.
  Nachdem wir alle Platz genommen haben beginnt Vater das Gespräch.
  „Also, habt ihr schon Ideen für Samstag?“
  „Ein Aperitif wäre doch ein guter Einstieg, oder? Vielleicht Sekt oder Campari?“, schlägt Großvater vor.
  „Und für Bitsey und ihre Freunde? Und was, wenn noch Kinder unter ihnen sind?“, wirft Großmutter ein. Vater lacht, als er mein missmutiges Gesicht sieht.
  „Mit siebzehn darf man schon mal Alkohol trinken. Natürlich in Maßen. Und falls Kinder dabei sind … Ich denke, eine Saftschorle wäre in Ordnung.“
  „Gibt es den ganzen Tag ein Buffet oder wie läuft das?“, will ich wissen. Schließlich muss mein Magen da mitspielen. Großmutter scheint erschüttert zu sein.
  „Gott bewahre! Nein, nein. Am Abend ein kleines Menü, meinetwegen auch ein Aperitif, und dann reicht das auch.“
  „Sicher?“, frage ich erstaunt. „Ich meine“, füge ich hinzu. „Da kommen definitiv Menschen, die einen Bärenhunger mitbringen – denkt mal an Jude! Der hat immer für vier gegessen!“
 Vater wird ein wenig blass.
  „Du hast recht. Und vier mal …“ Er rechnet im Kopf nach und seine Augen weiten sich. „Vielleicht sollten wir den Aperitif weglassen. Dann ist der Appetit nicht so groß?“
  „Das wird nichts nützen. Aber wenn wir so was wie Eierlikör servieren? Ich habe gehört das dass den Appetit eher dämpft.“
  „Wie wär's mit Baileys?“, schlage ich vor.
Großvater schaut zu seiner Frau. Wenn sie es nicht absegnet, wird daraus nichts. Doch sie ist mehr als einverstanden.
  „Sehr gut. Und statt eines Menüs machen wir eine Grillparty. Das wird ihnen gefallen.“
Großmutter erzählt wie sie dekorieren möchte, aber ich höre nur mit halben Ohr zu. Ich habe von meinem Saft getrunken und in meinem Mund bricht ein Inferno an brennendem Schmerz aus. Ich reiße mich zusammen und esse ein wenig von dem Toastbrot. Das enthält wenigstens keine Säure oder der gleichen.
  „Du isst ja gar nichts, Bitsey.“
  „Doch, doch. Ich will es nur langsam angehen.“
Ich weiß nicht, ob Vater mir das abnimmt, aber er redet nicht weiter auf mich ein. Nun gut, also noch ein Toast. Hoffentlich sehe ich es morgen früh nicht wieder.

Die Asche fällt in sich zusammen als ich sie in die Hand streue. Heute dauert es noch länger. Ich weiß – und mein Körper anscheinend auch – was auf mich zukommt. Unter schüttelndem Widerwillen landet das graue Zeug in meinem Mund. Sofort setzt das Stechen und Brennen wieder ein. Ich spüle meinen Mundraum mit Wasser und schlucke alles hinunter. Nachdem alles weg geräumt ist, lege ich mich in mein Bett und warte. Aber nichts passiert. Die Anzeige meiner Uhr steht auf zweiundzwanzig Uhr fünfzig. Zeit zu schlafen.

Die Sonne weckt mich. Ich grummele, dass ich keine Lust habe. Schlecht gelaunt will ich mich aus meiner Decke schälen, doch die ist nicht da. Blinzelnd setze ich mich auf, aber die Hand, mit der ich mich ab zu stützen versuchte, sinkt in etwas dunkles ein. Unter mir setzt sich etwas in Bewegung und ich rutsche hinunter, lande sanft auf feinem Sand und das was eben noch unter mir war, gräbt mich unter sich ein wie eine Lawine. Das Licht das durch die Zwischenräume der Kohlestücke scheint – so sieht die Masse jedenfalls aus – führt mich zurück an die Oberfläche.
Eine Ewigkeit scheint verstrichen zu sein ehe ich mich fasse und den vor Staunen geöffneten Mund schließe. Eine bogenartige Hügelkette an Kohle erstreckt sich Kilometerweit nach links und rechts von mir, ein Ende ist nicht abzusehen. Ich hebe eines der kleinen unförmigen Stücke auf. Oder versuche es, denn es ist unglaublich schwer. Ich kann dieses trockene und raue Ding nicht lange halten, sein Gewicht wie ich es vom Gewicht heben kenne zieht mich zu Boden. Ich merke, dass mich das nicht weiter bringt und sehe mich stattdessen weiter um.
  Hinter mir, der Hügelkette in ihrem Lauf folgend, erstreckt sich ein feiner Sandstreifen der an ein Wasser grenzt. Vorsichtig gehe ich darauf zu. Es ist glasklar und trotzdem kann ich den Sand am Grund nicht sehen. Zögerlich tauche ich meine Hand hinein, hätte aber genauso gut in die Luft greifen können, denn ich spüre nichts. Dieses Wasser bleibt spiegelglatt, selbst als ich erneut die Hand eintauche um etwas davon zu schöpfen. Das Wasser in meiner Hand beginnt hinauf zu tropfen! Mein Blick folgt den Tropfen in den grenzenlosen Himmel, der so dunkel ist wie in einer Mondlosen Nacht. Aber wie kann es dann hier taghell sein?
  Zum ersten mal kommt mir der Gedanke das ich im Nirgendwo bin. Und wo sollen die Seelen sein? Ich sehe zurück auf die schwarzgraue Hügelkette. Natürlich.

Ich betrachte das kleine dunkle Stück Etwas und umfasse es.
Bobumm. Bobumm.
Vor Schreck ziehe ich die Hand zurück. Das Ding lebt! Ich hatte also richtig vermutet: diese unförmigen Dinger sind Seelen. Verdammt viele. Ich berühre eine andere Seele, doch nichts regt sich.
  „ … finde die Seele … zahle für sie … zeige ihr den Weg … Also kann ich nicht einfach irgendeiner helfen. Nur die, die bereit ist?“, rede ich vor mich hin und erschrecke. Es ist so unglaublich still hier, dass ich glaube zu schreien.
  Wo ist die erste Seele? Ich entdecke sie und wende meine ganze Kraft auf um sie anzuheben. Da fällt mir ein, dass ich nicht weiß, was ich eigentlich tun muss. Hilflos schaue ich mich um. Niemand hier. Niemand, der mir helfen kann. Hatte Doloris nicht etwas gesagt? Man muss für die Seele zahlen? Aber wo, wie und mit was? Ich lege die Seele zurück – allerdings weiter ab von den anderen, damit ich sie nicht noch mal suchen muss – und setze mich daneben. Entweder hatte ich nicht zugehört, oder sie hat nie etwas dazu erwähnt.
  „Na, wunderbar. Ich bin im Nirgendwo, habe die Chance Jude zu retten und bekomme es nicht gebacken, weil ich zu blöd bin! Großartig.“
Jemand lacht. Ruckartig stehe ich und sehe mich um. Immer noch niemand da.
  „Sehr gut. Ich drehe durch. Genau das hat zu meinem Glück gefehlt.“
Ein Haufen verkohlter Seelen, Wasser, das keines ist und ich ohne Plan. Ich setze mich wieder und starre diesen verdammt perfekten Sand an und dann das verdammt perfekte Wasser. Und dann diese verdammt perfekte … Riesenschlange? Ich starre sie an und sie mich. Sie ist gigantisch. Ich kann kaum größer als ihre waagerechte Schlitzpupille sein, mit der sie mich ansieht. Das Auge liegt im Halbschatten und der Wulst, der ihn verursacht zieht sich nach hinten weg wo er sich zu einem gedrehten Horn windet. Das selbe auf der anderen Seite, wie ich vermute, denn das Vieh hat zwei davon. Das Maul ähnelt dem einer Schlange, doch es ist so lang und schmal wie bei einem Krokodil. Am Kinnbereich gehen zwei lange Barten ab, wie ich sie von Fischen kenne. Langsam öffnet es sein Maul und entblößt sein Raubtiergebiss. Aus der Tiefe seines Schlundes züngelt eine gespaltene, blauschwarze Zunge heraus, peitscht rasend schnell durch die Luft und verschwindet wieder. Das Wesen trägt keine Schuppen, sondern eine graue, ledrige Haut.
  Ich suche nach dem Ende dieses Monsters, aber da der restliche Körper sich im Wasser befindet, kann ich es nicht finden. Nun taucht es komplett unter und ist nicht mehr zu sehen. Keine Welle bleibt zurück. Aus Angst vor der Drachenschlange lasse ich das Gewässer nicht mehr aus den Augen und doch erschrecke ich erneut, als sie sich direkt am Ufer aus dem Wasser erhebt. Es muss unglaublich tief sein, dass es dieses Wesen beherbergen kann.
  Wie gelähmt stehe da und beobachte, wie sie sich langsam aus dem Wasser schiebt. Zwei eher kurze, aber kräftige Klauen helfen ihr dabei. Sie dreht den Kopf zur Seite und beobachtet mich. Dann schiebt sie sich wieder ein Stück vorwärts. Bedächtig und still. Mir wird klar, dass wenn sie mich töten wollte, es schon vorhin hätte tun können. Möglicherweise hatte sie mich minutenlang beobachtet. Ich wäre eine leichte Beute gewesen.
  Plötzlich ist sie reglos; nur das mir zugewandte Auge blinzelt kurz. Es ist bernsteinfarben und erinnert mich an die Augen von Ziegen oder Schafen. Ich hauche ihr etwas zu, weiß aber selbst nicht was ich ursprünglich sagen wollte. Sie blinzelt erneut, senkt ihr Haupt, reckt es mir entgegen und verharrt in dieser Position. Zaghaft strecke ich meinen Arm aus und lege die Hand zwischen ihre Nüstern. Sie erzittern kurz, als träfe ein Windzug auf Segel. Das Maul versperrt mir jede Sicht auf den Rest des Körpers, so dass ich nur mutmaßen kann, dass es ihr gefällt. Langsam streiche ich mit der Hand über ihre Haut. Außer das sie weder warm noch kalt ist, fällt mir auf, wie trocken, rau und schroff sie ist. Kleine und größere Furchen bilden ein Netz aus Falten. Seltsam für ein Wesen das im Nassen lebt.

Wir haben noch eine Weile so gestanden; versunken in dieser für mich unwirklichen Welt. Nun zog die Drachenschlange ihre Bahnen im Wasser wie ein Knoten, den man zu entwinden versucht. Ich schließe die Augen und genieße es, keine Angst zu haben. Über nichts nachzudenken, weder über die Zukunft noch über Probleme oder andere Belanglosigkeiten. Hier ist alles gut. Es heißt, man könne seine Seele baumeln lassen. Wer immer das auch behauptet hat: es stimmt.

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